Bürgerkriegsfolgen in Kolumbien: Ein paar Quadratmeter Sicherheit

Vier Millionen Menschen verloren im Bürgerkrieg ihr Land. Nun wagen einige Vertriebene die Rückkehr in den Regenwald - mit Erfolg.

Die unumstrittene Matriarchin in der „Humanitären Zone“: die 72-jährige „Doña“ Maria Chaverra. Bild: Kristin Gebhardt

LAS CAMELIAS taz | Nichts ist erfunden, alles ist genau so passiert. Darauf legt Heyler Santos großen Wert. Gerade deshalb fällt ihm das Singen ja so leicht. Wer also die Geschichte des 21-Jährigen und seiner beiden Freunde verstehen will, muss bloß zuhören. „Nach allem, was wir erlebt haben“, sagt der Afrokolumbianer, „springen die Worte wie von selbst heraus.“

Heute ist die „Nacht der Erzählungen“, und weil an diesem Abend alle in dem kolumbianischen Dorf Las Camelias über das sprechen sollen, was sie bewegt, sind auch die drei Rapper mit dabei. Mikrofon, Lautsprecher und Röhrenverstärker haben die „Resistentes“, die „Widerständigen“, wie sie sich nennen, längst aufgebaut. Der Generator funktioniert, ein kleiner Soundcheck, und es kann losgehen.

Unter dem Dach eines schlichten, aus Holz gezimmerten Hauses rappen die jungen Männer vor ihren Publikum vom „verfluchten Krieg“ und von „korrupten Politikern“. Und natürlich von den „Señores“, den paramilitärischen Banden.

Seit November 2012 führen Regierung und die Revolutionären Streitkräfte Kolumbiens (Farc) unter der Schirmherrschaft von Kuba und Norwegen in Havanna Friedensverhandlungen.

Die Themen: Rückgabe widerrechtlich angeeigneten Landes und Agrarreform, Entwaffnung und politische Integration der Farc, Kampf gegen den illegalen Drogenhandel, Entschädigung der Opfer und Aufarbeitung der Verbrechen von Armee, Guerilla und Paramilitärs.

Die Farc wurde 1964 im Kampf gegen die Großgrundbesitzer gegründet. Infolge des fast 50-jährigen Kriegs zwischen Armee, Rebellen und Paramilitärs starben seither Hunderttausende Menschen. 4 Millionen Menschen wurden nach UN-Angaben von ihrem Land vertrieben.

Unterlagen und gemeinsame Erklärungen der Verhandlungspartner werden veröffentlicht unter www.mesadeconversaciones.com.co (vog)

Jeder hier weiß genau, was gemeint ist. Alle Bewohner der 35-Familien-Gemeinde am Ufer des Curvaradó haben erlebt, was die Rapper in ihren Reimen zum Ausdruck bringen. Santos war noch ein Kind, als die bewaffneten Männer das erste Mal kamen. Aber seine Großmutter Maria Ligia Chaverra erinnert sich noch genau an diese Zeit.

Flucht in den Regenwald

„Schon 1996 haben uns Paramilitärs und Soldaten bedroht, ein Jahr später mussten wir flüchten“, erzählt die 72-Jährige, die alle Doña Maria nennen. Manche gingen in die Städte, Doña Maria und ihre Angehörigen flohen erst in anliegende Dörfer, später in den Regenwald. „Drei unserer acht Kinder waren immer mit dabei“, sagt sie. Und die Enkel natürlich auch.

„Sie haben uns verfolgt, weil wir angeblich der Farc-Guerilla angehörten, dabei waren wir nur Bauern“, erklärt Doña Maria und kichert in sich hinein. „Ausgerechnet ich soll eine Guerillaführerin gewesen sein.“ Erst später habe sie verstanden, was tatsächlich hinter der Invasion steckte, die 130 Freunde und Angehörige das Leben kostete.

Nach der Vertreibung nahmen sich Agrarindustrielle widerrechtlich das Land, das sie und ihr Mann im Regenwald 20 Jahre zuvor urbar gemacht hatten. So weit das Auge reichte, pflanzten die Unternehmer Ölpalmen. Später nutzen sie die Felder auch zum Anbau von Bananen. Auf den Wiesen weiden inzwischen etliche Rinder.

Zumindest von den Palmen sind heute nur noch die vertrockneten Stümpfe zu sehen. Denn 2008 kehrten die Vertriebenen zurück, zerstörten die Plantagen, die ihren Boden auslaugten, und siedelten sich in „humanitären Zonen“ wieder an. „Kein Zugang für bewaffnete Akteure“, steht seither auf einem Schild neben dem hölzernen Eingangstor von Las Camelias.

In die alte Heimat

„Ja, daran halten sich alle: die Paramilitärs, die Guerilla, die Soldaten“, bestätigt Santos. Rund um die Gemeinde sorgt zudem ein Zaun für Schutz. Ein paar Quadratmeter Sicherheit. Nach und nach versuchen die Rückkehrer, ihre alte Heimat zurückzuerobern, und werden dabei sogar noch von höchster Ebene unterstützt. 2011 verabschiedete die Regierung des Präsidenten Juan Manuel Santos ein Gesetz, das eine Entschädigung und die Rückgabe gewaltsam enteigneten Landes vorsieht. Doch so einfach ist das nicht.

Außerhalb von Las Camelias beginnt das Feindesland. Im „Haus der Erinnerung“, das die Campesinos im Dorf eingerichtet haben, erinnert eine Tafel an den Aktivisten Manuel Ruíz, der mit seinem Sohn im März vergangenen Jahres ermordet wurde. Allein zwischen 2010 und 2011 starben in Kolumbien 26 Menschen, weil sie ihr Land eingeklagt hatten.

Santos geht deshalb ungern allein auf das Feld, das einen halbstündigen Fußmarsch entfernt liegt. „Man weiß ja nie, wer einem unterwegs begegnet.“ Erst vor ein paar Monaten wurde seine Großmutter wieder bedroht. Wer dahintersteckt? Die Paramilitärs, da ist sich Doña Maria sicher. „Sie arbeiten weiter für die Agrarindustrie, damit die Unternehmer das Land nicht zurückgeben müssen.“

Dass es ausgerechnet sie trifft, verwundert Maria Chaverra nicht. Schon lange lebt sie mit der Gefahr, schließlich gehörte sie zu den Ersten, die zurückkamen. Gemeinsam mit Aktivisten der Ökumenischen Kommission „Justicia y Paz“ eröffnete sie die „humanitäre Zone“ Las Camelias. Hier ist sie die unumstrittene Matriarchin, die jeden Morgen bei den Familien vorbeischaut und nach dem Rechten sieht.

Auf nach Bogotá

Nun unternimmt die agile 72-Jährige mit den etwas müden Augen auch noch eine anstrengende Reise. Mit ihrem Enkel und 14 weiteren Dorfbewohnern fährt sie nach Bogotá, um an einer Demonstration zur Unterstützung der Friedensverhandlungen zwischen der Regierung und der Farc teilzunehmen.

30 Stunden quält sich der Bus aus dem Departement Chocó nahe der Grenze zu Panama bis in die Hauptstadt. Zunächst durch Bajirá de Belén, wo Paramilitärs die Straßen kontrollieren, vorbei an großen Rinderfarmen und etlichen Bananenstauden, dann auf den Serpentinen der Kordilleren über Medellín nach Bogotá.

Schon vorher weiß Doña Maria, dass ihr die Knochen noch Tage danach schmerzen werden. Doch was soll’s. „Ohne Friedensabkommen wird es auch für uns keinen Frieden geben.“ Frieden, das heißt für die Unnachgiebige: Sicherheitsgarantien, Reparationszahlungen, die Rückgabe des geraubten Landes. Und dass die Verantwortlichen endlich zur Rechenschaft gezogen werden.

Konflikte wie der in Doña Marias Heimat spielen beim Friedensdialog eine zentrale Rolle. Die Farc-Guerilla hatte darauf gedrängt, dass Landrechte und Agrarreform ganz oben auf der Agenda stehen. Seit die Verhandlungen in November begonnen haben, sprechen die Unterhändler deshalb über kleinbäuerliche Wirtschaft, die Rolle der Agrarindustrie und die Zukunft der 4 Millionen, die von ihrem Boden vertrieben wurden. Nicht zuletzt deshalb nehmen Zigtausende aus den ländlichen Regionen an der Demonstration teil.

Weg durch die Massen

Bogotá. Es ist ein anstrengender Weg vom Parque Nacional zur Plaza Bolívar. Meter für Meter schieben sich Heyler Santos, seine Großmutter und die anderen aus Las Camelias voran, fünf Stunden lang drängeln sie sich an diesem Apriltag zwischen Gewerkschaftern, traditionell gekleideten Indigenen und trommelnden Studenten durch die Innenstadt. In ihrer türkisfarbenen Hose und mit ihrer bunten Ledertasche kämpft sich Doña Maria durch die Massen, die Strapazen der Fahrt scheinen plötzlich vergessen zu sein.

Rapper Heyler denkt indes darüber nach, wie er die Demonstration in seinem nächsten Song würdigen könnte. „Für einen Frieden im Chocó“ steht auf seinem T-Shirt. Und: „Marcha Patriótica“ – der Name des Bündnisses, das zu dem Protestmarsch aufgerufen hat. Die Linken wollen Druck machen und können mit großem Zuspruch rechnen. Nach einer jüngst veröffentlichten Umfrage unterstützen 63 Prozent der Bevölkerung den Dialog.

Auch Padre Alberto Franco ist vorsichtig optimistisch. Der Missionspriester leitet die Ökumenische Kommission „Justicia y Paz“, deren Büro in der Nähe der Demonstrationsroute liegt. Doña María und der 53-jährige Geistliche haben schon einige Kämpfe am Curvaradó zusammen ausgefochten.

Wenn es nach dem Priester ginge, sollten humanitäre Zonen wie Las Camelias zum Vorbild einer künftigen Agrarpolitik werden. Der Schutz des Lebens und der Biodiversität sowie die Ernährungssouveränität müssten überall im Vordergrund stehen. „Wenn sich die Monokultur durchsetzt, verschwinden die anderen Pflanzen, und die Menschen in den Gemeinden enden als bloße Subjekte des Marktes“, sagt der Padre.

Schüsse aufs Auto des Priesters

Vor dem Gebäude von „Justicia y Paz“ stehen drei Wagen mit verdunkelten Scheiben. Mehrere Männer und ein hoher, weißer Metallzaun schützen die Menschenrechtler. Schließlich werden die Aktivisten regelmäßig angegriffen. Zuletzt im Februar, als Unbekannte auf das Auto des Priesters schossen. Der Padre hatte zuvor die alten Mächte um die Agrarunternehmer im Chocó öffentlich dafür verantwortlich gemacht, dass die Rückgabe des Landes in Las Camelias nicht vorangeht.

Doña María und ihr Enkel sind unterdessen ans Ufer des Curvaradó zurückgekehrt. Dort wartet eine Überraschung auf die 72-Jährige. Beamte haben einen Wagen samt Fahrer gebracht – eine Schutzmaßnahme, die Aktivisten seit Langem von der Regierung gefordert haben. Der weiße Kombi steht nun unter einem ausladenden Mangobaum.

Heyler Santos und seine Freunde putzen ihn wie wild, als gelte es, einen Schönheitswettbewerb zu gewinnen. Spannend sei es in Bogotá gewesen, findet der Rapper. Dennoch ist er glücklich, wieder zu Hause zu sein. Hier kann er die Felder mit Reis bestellen, mit Freunden Fußball spielen und mit seinen Jungs am neuen Raps arbeiten. „Ich hoffe von ganzem Herzen, dass es endlich Frieden gibt“, sagt er. Denn vom „Kämpfen, kämpfen, kämpfen“, wie es einer seiner Songs fordert, hat auch Heyler genug.

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