Das Werk der Autorin Benoîte Groult: Ein Netz von feinen Regeln

Benoîte Groult hat von Gleichheit im Begehren und in Affären geschrieben – und sie auch gelebt. Wie weit ist die sexuelle Befreiung eigentlich heute?

Benoite Groult, eine ältere Frau mit hellbraunen Haaren und brauner Jacke lächelt

Ihr freizügiges Leben wurde gerade in Deutschland zu einem Ideal Foto: dpa

In dem Film „Die Kommune“ von Thomas Vinterberg scheitert eine Frau an ihren eigenen emanzipatorischen Ansprüchen. Sexuelle und emotionale Befreiung stehen auf dem Programm der 70er-Jahre-Gemeinschaft, die sie und ihr zunächst zögernder Mann in seinem ererbten großen Haus aufbauen. Der Mann erfasst dann erstaunlich schnell die komfortable Lage, und so zieht bald ein jüngeres Abbild seiner Frau in Haus und Bett ein. Wie Anna dann langsam, aber sicher unter ihren eigenen Ansprüchen an maximale Freiheit für alle zusammenbricht, ist ein hartes Stück Kino. So sieht eine der Aufarbeitungen der sexuellen Befreiung heute aus. Die Geschichte einer Überforderung.

Benoîte Groult erzählt die andere Geschichte. Die von Gleichheit im Begehren und in den Affären. Die kürzlich verstorbene Autorin von „Salz auf unserer Haut“, der Geschichte einer leidenschaftlichen und langjährigen sexuellen Beziehung zwischen einer Pariser Intellektuellen und einem bretonischen Fischer, hat diese Geschichte auch gelebt. Verheiratet war sie mit dem Schriftsteller Paul Guimard, eine weitere, vornehmlich sexuelle Beziehung in langen Abständen führte sie mit einem deutsch-amerikanischen Piloten. Der Roman steht arg unter Kitschverdacht – allein, dass Benoîte Groult zumindest etwas Ähnliches gelebt zu haben scheint wie das, was sie da schrieb, gibt ihm Gewicht.

Wie auch immer das Beziehungsdreieck in ihrer Ehe konkret aussah – Groults freizügiges Leben wurde zu einem Ideal, gerade von Frauen in Deutschland, wo sich der Roman millio­nenmal verkaufte. Ende des Patriarchats! Nicht nur der Mann hat eine Geliebte, und die Frau muss leiden wie Anna. Sondern die Frau kann ebenso genießen wie der Mann: Egalité! Wie Simone de Beauvoir und Jean-Paul Sartre mit etwas weniger existenzialistischem Aplomb.

Allein die Tatsache, dass eine Frau sich und ihre Lust ebenso wichtig nimmt wie ein Mann, beflügelte die Fantasien: Ganz Subjekt seines Lebens sein, das ist als Anspruch schnell formuliert, aber wie diese Freiheit gestaltet werden kann, war unklar: Liebe lieber lesbisch, verkündete ein Teil der Frauenbewegung in den 80er Jahren. Die Männer völlig aufgeben, das schien einer der praktikableren Wege in die Freiheit. Benoîte Groult machte es so viel eleganter, französischer – und großbürgerlicher.

Macht und Mätresse

Denn so emphatisch ihr Freiheitsbegriff auch ist – das Ausleben dieser Freiheit folgte einem historischen Muster: Macht und Mätresse. Die Königinnen haben Liebhaber, das Großbürgertum tut es ihnen gleich. Statt der rohen Freiheit, wie sie Vinterberg inszeniert, gibt es bei ihr ein Netz feiner Regeln: Der Ehemann ist die Nummer eins, der Geliebte Nummer zwei – und daran besteht nie ein Zweifel. Der bretonische Fischer respektive amerikanische Pilot kann der Hauptperson intellektuell und sozial nichts bieten, wie sie nicht müde wird zu betonen.

Übersetzt heißt das: Wir Eheleute sind derart großartig, an diese Beziehung kann nichts rühren. Mehr noch, an diese Familie kann nichts rühren, immerhin gibt es Kinder. Die Beziehung wird auch nicht vor den Augen des anderen geführt, wie in Vinterbergs Film, sondern diskret. Die große Freiheit, sie folgt vielen kleinen Regeln.

Dennoch bleibt dieses Bild, dass hier Mann und Frau sich gegenseitig Freiheit geben – und dass die Frau sie auch nutzt. Was bei Simone de Beauvoir immer auch ein bisschen Behauptung blieb, schlicht, weil die Zahl der Liebhaber/innen der beiden doch arg unterschiedlich war, ist bei Groult eingelöst: Da ist sie, die weibliche Lust, laut und deutlich hinausposaunt.

Die offene Beziehung à la Groult, man kann sagen, jenseits von Seitensprüngen, sie ist eine Randerscheinung geblieben. Noch immer mühen sich die Menschen in dem, was Musikerin und Autorin Christiane Rösinger kritisch als RZB verhandelt: romantische Zweierbeziehung. In der Regel folgt auf einen Liebhaber oder eine Liebhaberin eine veritable Krise. Denn die feinen Regeln, der sich die Beziehungen der Benoîte Groult so schön gefügt zu haben scheint, sie passen leider für die meisten Nebenbeziehungen nicht so recht.

Ein, zwei Liftings hielten die Schwerkraft in Schach

Es ist alles viel chaotischer, man weiß nicht mehr, wen man wie liebt oder ob überhaupt noch, der andere ist zutiefst verletzt – ein Zustand, den nur die wenigsten mit großbürgerlicher Nonchalance zu überspielen in der Lage sind. (Und man möchte auch lieber nicht so genau wissen, wie die Stimmung bei Groult zu Hause war, wenn sie von ihrer amourösen Reisen zurückkehrte.)

Aber sind wir denn mit der sexuellen Befreiung wenigstens weiter gekommen als die Kommune von Thomas Vinterberg? Oder spiegelt die nur eine Rohfassung von dem, was die israelische Soziologin Eva Il­louz heute in „Warum Liebe weh tut“ beschreibt? Dass die natürliche Reproduktionsfähigkeit der Frau ihr zum Nachteil gereicht, weil ein Mann die Gründung einer Familie länger aufschieben kann als eine Frau und sich deshalb mehr Unverbindlichkeit „leisten“ kann? Dann profitierte von der Freiheit eben der Mann mehr als die Frau – ein Machtungleichgewicht.

Groult ist darüber hinweggesprungen, und das machte ihre Faszination aus. Heute ist es eher so, dass man die Bedingungen sieht, unter denen ihr Modell funktionierte: Die Kinderfrage war bereits erledigt, Verlassenwerden oder Verlassen war keine Option. Ein, zwei Liftings hielten die Schwerkraft in Schach, und über den Rest wurde geschwiegen. Das ist real und fiktiv zugleich: Ja, so etwas ist möglich, nein, die Wahrscheinlichkeit, dass es für dein Leben eine Bedeutung haben könnte, ist so ungefähr gleich null.

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