Debatte Freitagscasino: Geheimsache Haftung

Mit 310 Milliarden Euro bürgt Deutschland in der Eurokrise. Aber was heißt das? Wo bisher nur Milliarden auf dem Papier stehen, könnte bald reales Geld fließen.

Haften ohne Folgen? Nur, wenn man auf seine Kinder aufpasst. Bild: dpa

Geheimpapier – das klingt gut. Was geheim ist, muss wichtig sein. Und so zirkulierte in der vergangenen Woche ein „Geheimpapier“ des Bundesrechnungshofes, in dem zu lesen stand, dass der Bund inzwischen für mindestens 310,3 Milliarden in der Eurokrise haftet.

Das ist eine klare Ansage. Unklar blieb jedoch, warum es sich um ein „Geheimpapier“ handeln sollte. Denn es ist keineswegs unbekannt, welche Garantien Deutschland übernommen hat. Ganz im Gegenteil. Jede einzelne Zusage muss vom Bundestag abgesegnet werden. Der Bundesrechnungshof hat also nur den Taschenrechner benutzt und alle Einzelsummen addiert.

Um die verschiedenen Posten noch einmal zu wiederholen: Es gibt das erste Hilfspaket für Griechenland, die Hilfen der EU-Kommission, den bisherigen Rettungsschirm EFSF und den neuen Rettungsschirm ESM.

Vor lauter Aufregung über dieses angebliche „Geheimpapier“ ging die entscheidende Frage unter: Was bedeutet es eigentlich, dass Deutschland offiziell für mindestens 310,3 Milliarden Euro haftet? Denn Haftung kann ja recht folgenlos sein, wie alle wissen, die schon mal an einer Baustelle das Schild „Eltern haften für ihre Kinder“ gelesen haben. Diese Drohung hat noch keine Familie in Panik versetzt, weil allgemein bekannt ist, dass es erst einmal zu einem Schaden kommen muss, bevor die Haftung einsetzt. Haftung und Haftungsrisiko sind eben nicht das Gleiche.

In der Eurokrise müsste also abgeschätzt werden, wie wahrscheinlich es ist, dass Deutschland für die Kredite an die Krisenländer einstehen muss, für die es gebürgt hat. Dafür gibt es keine Prozentzahl, weil es keine geben kann. Denn die Eurokrise steuert auf ein Paradox zu: Es könnte sein, dass das Haftungsrisiko umso geringer ausfällt, je mehr Haftung Deutschland übernimmt.

Drei Fronten

Aber von vorn. Bei jeder Risikoberechnung ist entscheidend, von welchem Szenario man ausgeht. Risikobewertung und Prognose sind nicht zu trennen. Und die Zukunft sieht tatsächlich düster aus, denn die Eurokrise beschleunigt sich an mindestens drei Fronten.

Erstes Problem: Die Zinsen für Italien und Spanien sind zu hoch. Bei einer Auktion am Donnerstag musste die spanische Regierung für 10-jährige Papiere rund 6,4 Prozent Zinsen bieten. Diese hohen Kosten treiben jeden Staat irgendwann in die Pleite.

Zweites Problem: In den Krisenländern geht die Panik um. Viele Bankkunden bringen ihr Geld in Sicherheit – und überweisen es auf Konten in Deutschland. Dort bleibt es natürlich nicht liegen, sondern wird über die Europäische Zentralbank (EZB) wieder zurück in die Krisenländer transferiert. Denn ohne diese Liquiditätshilfen wären die dortigen Banken sofort pleite. Wichtig dabei: Auch gesunde Institute steuern in den Bankrott, wenn die Kunden Gelder abziehen.

Deswegen springt die EZB ja ein. Allerdings gerät sie an ihre Grenzen. Vor zwei Wochen gab die Notenbank bekannt, dass sie jetzt sogar Autokredite als Sicherheit akzeptiert. Die EZB muss also schon eher bedenkliche Papiere ins Depot nehmen, damit sie die bedrohten Banken mit Geld versorgen kann.

Rezession frisst sich in den Kern

Was auch verstanden werden muss: Wenn spanische Bankkunden ihre Euros nach Deutschland überweisen, dann wird aus spanischem Geld sozusagen deutsches Geld, das anschließend nach Spanien zurückfließt. Sollten in Spanien Banken pleitegehen – dann haften letztlich die Bundesbank und die EZB dafür, dass die Spanier mit deutschen Konten ihr Geld wiedersehen.

Schon dies zeigt: Die Haftung Deutschlands ist weitaus umfangreicher, als es das „Geheimpapier“ vermuten lässt. Offenbar hat der Bundesrechnungshof noch nicht davon gehört, dass in der Eurozone Kapitalverkehrsfreiheit existiert.

Drittes Problem: Die Wirtschaft in der Eurozone bricht ein – und zwar nicht nur in den Krisenländern. Längst frisst sich die Rezession bis in den Kern vor, gelten auch Frankreich und die Niederlande als bedroht. Deutschland kommen seine Euro-Partner abhanden. Ganz real stellt sich die Frage, wer eigentlich noch für die Krisenstaaten haften soll – wenn fast jedes Euroland als Krisenstaat zählt.

Eine einfache Lösung

Auch dieses Problem ist der EZB nicht entgangen, die daher am Donnerstag den Leitzins von 1,0 auf 0,75 Prozent gesenkt hat. Das gab es noch nie. Trotzdem wird dieser historische Superlativ nichts bringen, denn die Rezession verschärft sich ja nicht, weil der Leitzins mit 1,0 Prozent exorbitant gewesen wäre – sondern weil fast überall in Europa gespart wird.

Dieses Spardiktat ist eine deutsche Erfindung, die mit dem Fiskalpakt nun in alle Euroländer exportiert wird. Zunächst wirkt die deutsche Logik zwingend: Wenn die Krisenländer ihrer Defizite einschränken, dann muss doch auch das deutsche Haftungsrisiko sinken! Wo weniger Schulden sind, kann weniger Geld verloren gehen.

Kanzlerin Merkel will also sicherstellen, dass es bei jenen 310,3 Milliarden Euro bleibt, die im „Geheimpapier“ als Haftungssumme genannt sind. Sehr stolz kam sie vom EU-Gipfel in der vergangenen Woche zurück – und hielt es ernsthaft für einen Sieg, dass sie die Italiener und Spanier nur mit vagen Zukunftsversprechen namens Bankenunion und erweiterte ESM-Kompetenzen abgespeist hatte.

Schade nur, dass die Realität stört. Denn die Eurokrise eskaliert – und so wird stets wahrscheinlicher, dass aus der Haftung ein Schadensfall wird. Wo bisher 310,3 Milliarden Euro nur auf dem Papier stehen, könnte demnächst reales Geld fließen. Während die Haftung also möglichst minimiert wird, steigt das Haftungsrisiko rasant.

Es wäre daher Zeit, diese Logik umzudrehen – und das Haftungsrisiko zu senken, indem man die Haftung ausweitet. Die Lösung wäre denkbar schlicht: Der EZB müsste gestattet sein, die Staatsanleihen von Italien und Spanien aufzukaufen. Prompt würden die Zinsen sinken und auch die Kapitalflucht enden. Die Pleite von Staat und Banken wäre abgewendet. Und wo kein Bankrott ist, da ist auch kein Risiko. Wäre doch schön für Deutschland.

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Der Kapitalismus fasziniert Ulrike schon seit der Schulzeit, als sie kurz vor dem Abitur in Gemeinschaftskunde mit dem Streit zwischen Angebots- und Nachfragetheorie konfrontiert wurde. Der weitere Weg wirkt nur von außen zufällig: Zunächst machte Ulrike eine Banklehre, absolvierte dann die Henri-Nannen-Schule für Journalismus, um anschließend an der FU Berlin Geschichte und Philosophie zu studieren. Sie war wissenschaftliche Mitarbeiterin der Körber-Stiftung in Hamburg und Pressesprecherin der Hamburger Gleichstellungssenatorin Krista Sager (Grüne). Seit 2000 ist sie bei der taz und schreibt nebenher Bücher. Ihr neuester Bestseller heißt: "Das Ende des Kapitalismus. Warum Wachstum und Klimaschutz nicht vereinbar sind - und wie wir in Zukunft leben werden". Von ihr stammen auch die Bestseller „Hurra, wir dürfen zahlen. Der Selbstbetrug der Mittelschicht“ (Piper 2012), „Der Sieg des Kapitals. Wie der Reichtum in die Welt kam: Die Geschichte von Wachstum, Geld und Krisen“ (Piper 2015), "Kein Kapitalismus ist auch keine Lösung. Die Krise der heutigen Ökonomie - oder was wir von Smith, Marx und Keynes lernen können" (Piper 2018) sowie "Deutschland, ein Wirtschaftsmärchen. Warum es kein Wunder ist, dass wir reich geworden sind" (Piper 2022).

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