Debatte Katastrophen in Pakistan: Wie verbessert man die Welt?

KiK und H&M produzieren in Pakistan. Die Arbeitsbedingungen sind katastrophal. Eine Reise zeigt, warum Wohltätigkeit allein nicht reicht.

In Karachi brennt ein Medikamenten-Depot lichterloh, Menschen stehen ratlos daneben

Arbeitsschutz und Arbeitnehmerrechte sind katastrophal in Pakistan – auch weil europäische Konzerne die Preise drücken Foto: dpa

Das Wasser stieg an, über die Ufer und über die Deiche, es verschlang Felder und Straßen, es riss Dörfer nieder, es schwemmte jegliche Zivilisation in den Niederungen hinweg. Viele Menschen wurden überrascht von den Fluten, viele ertranken, manche retteten sich in ein höher gelegenes Schulgebäude oder Krankenhaus.

Dort harrten sie aus, schlecht und ohne Recht, und kehrten dann zu den Flecken Erde zurück, wo einst ihr Dorf gestanden hatte. Das geschah im August 2010 in Pakistan entlang des Indus.

Das Feuer griff um sich. Die Arbeiter versuchten durch die Türen nach draußen zu gelangen, doch die Türen waren von außen abgeschlossen (angeblich, um Diebstahl zu verhindern). Sie versuchten durch die Fenster zu fliehen, doch die Fenster waren vergittert. Familienangehörige, die sofort zur Fabrik geeilt waren, erlebten inmitten von Rauch und Gestank, wie es einigen Jüngeren gelang, eines der Fenster aufzubrechen und aus dem dritten Stock zu springen.

Die anderen erstickten, bevor sie verbrannten. Eine Mutter erzählt von dem Anblick des verkohlten Körpers ihres Sohns, seine Hände um einen Teller gekrallt, mit dem er sich vergeblich zu schützen versuchte. 289 Menschen starben, das tödlichste industrielle Feuer der Geschichte. Das geschah im Februar 2012 in Karatschi, der größten Stadt des Landes.

Strengen Qualitätskontrollen fürs zerrissene Produkt

Wasser und Feuer. Eine Überflutung und ein Brand. Eine Naturkatastrophe und ein Verbrechen. Unzählige Tote. Was passierte danach? Wie reagierte ein Schwellenland und die internationale Gemeinschaft auf eine derart massive Krise? Und wie die Menschen vor Ort? Pakistan im Februar 2017 gibt eine bedenkenswerte Antwort auf diese Frage.

In Karatschi erstrecken sich in riesigen Industriegebieten Tausende von Textilfabriken. Die Arbeitsbedingungen gelten schon als „human“, wenn der Mindestlohn von monatlich etwa 125 Euro gezahlt wird und fundamentale Sicherheitsvorkehrungen vorherrschen, wie etwa in einer Denim-Fabrik, die vor allem für H&M produziert.

Gewerkschafter führen einen fast aussichtslosen Kampf gegen allmäch­tige Fabrikeigentümer

In ziemlich komplexen Arbeitsvorgängen wird der Trash-Look auf Jeanshosen gezaubert, das zerrissene Produkt unterliegt einer strengen Qualitätskontrolle.

Weniger streng werden die Arbeitsbedingungen unter die Lupe genommen. Das Licht leuchtet hell, die Luft kann man atmen, doch 90 Prozent der Arbeiterinnen und Arbeiter erhalten keinen Arbeitsvertrag, genießen ergo keinerlei soziale Sicherheit. Sie könnten sich also nur schwer gewerkschaftlich organisierten, selbst wenn die Fabrikeigentümer es zulassen würden.

Nicht einmal eine Liste der Arbeiter existiert

Das ist üblich, das war vor 15 Jahren auch schon so, weswegen es Wochen dauerte, die Leichen zu identifizieren – es gab nicht einmal eine Liste der Angestellten. Die Hinterbliebenen wären überwiegend leer ausgegangen, wenn nicht eine Anhäufung „glücklicher“ Fügungen und die intensive Einmischung von mehreren Hilfsorganisationen sowie dem Menschenrechtsanwalt Faisal Siddiqi letztlich dazu geführt hätte, dass der deutsche Billiganbieter KiK (einziger Auftraggeber) unter Druck der Öffentlichkeit sowie der Bundesregierung eine Entschädigung von knapp 5 Millionen Euro zahlte, zunächst an die Internationale Arbeitsorganisation (ILO). Jetzt wird nur noch über die Modalitäten der Auszahlung gestritten.

Das ist einerseits viel – für die Überlebenden der Trost einer sozialen Absicherung –, andererseits aber auch zu wenig. Denn an den Verhältnissen hat sich nichts verändert. Die Gewerkschafter führen weiterhin einen fast aussichtslosen Kampf gegen die allmächtigen Fabrikeigentümer, die mit der Politik und der Armee eng vernetzt sind. Die staatlichen Sicherheitskontrollen erfolgen pro forma, internationale Standards werden selten eingehalten.

Die Auftraggeber aus Deutschland, Spanien, Schweden und England drücken ständig auf die Preise. „Kein Auftrag ohne heftiges Schachern“, wie ein Manager bitter bemerkt. An den grundsätzlichen Verhältnissen massiver Ausbeutung und Erniedrigung hat sich nichts geändert.

„Letztlich sind wir gescheitert“, resümiert daher Faisal Siddiqi. Es sei einfacher, eine einmalige Entschädigung auszufechten als eine grundsätzliche Veränderung der Produktionsbedingungen. Denn der Druck, das hört man allerorten, bei den Gewerkschaftern, den Rechtsanwälten und den NGOs, müsse von außen kommen, von den Konsumenten in den Ländern mit dem großen, billigen Angebot an Stoff und Mode.

Unendliche Verschuldung

Die Lage in den überschwemmten Dörfern war genauso hoffnungslos. Üblicherweise harren die Menschen monatelang in provisorischen Lagern aus, bevor sie in eine ungewisse Zukunft entlassen werden. Da sie alles verloren haben, erhalten sie Geld nur von Kredithaien, die bis zu 10 Prozent Zinsen verlangen, monatlich.

In Ländern wie Pakistan trifft man auf Schritt und Tritt Bauern, die sich aus solcher Verschuldung niemals befreien können. In diesem Fall hat eine einheimische NGO namens HANDS mit wichtiger Hilfe der deutschen medico international den Zurückkehrenden die nötige Unterstützung gewährt, um aus der Katastrophe einen Neuanfang zu gestalten.

Inzwischen sind die Häuser solide und die Felder bestellt, die Grundschule ist neu aufgebaut und in fester Lehrerhand, die Zahl an Ziegen und Kühen wächst, eine Frau stellt ein Zimmer als Gesundheitszentrum zur Verfügung, eine andere organisiert Bestellungen und Verkäufe für die inzwischen ausgebildeten Näherinnen des Dorfs. „Wenn Menschen aus anderen Dörfern zu uns kommen“, so einer der Aktivisten, „glauben sie sich im Paradies.“ Wie konnte das geschehen? Ganz einfach: ein Wiederaufbau, der aus integrierten Maßnahmen besteht, die das Gedeihen eines Dorfs langfristig ermöglichen: Wohnen, Einkommen, Gesundheit, Bildung. Und all das nicht von oben verordnet, sondern von der Gemeinschaft selbst gestaltet. Autonomie! „Heute“, sagt eine ältere Frau, „geht es uns besser als vor der Überschwemmung.“

Die Moral der Geschichte: Hilfe und Unterstützung ohne eine Veränderung der Verhältnisse ist zwar wohltätig, vielleicht auch gottgefällig, verbessert aber nicht die Welt und bekämpft auch nicht die Fluchtursachen.

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