Debatte Repräsentative Demokratie: Protest, auf den Hund gekommen

Es gibt viel Kritik an der repräsentativen Demokratie. Kreative Alternativen machen sich aber nicht bemerkbar und das Protestpotenzial ist gering.

Wer trägt heutzutage schon noch die rote Fahne? Bild: hannesleitlein/photocase.de

Die repräsentative Demokratie ist verstockt und erodiert in vielen Bereichen. Die Wahlbeteiligung geht seit Jahren zurück. Die Reputation von Parteien, Gewerkschaften, Kirchen, Wohlfahrtsverbänden, Banken und Leitmedien sinkt rapide. Das wirkliche Engagement in den Parteien nimmt dramatisch ab – lieber werden Pfründe verwaltet als gestaltet. Die Menschen begreifen ohnmächtig, dass Märkte wichtiger sind als sie. Aber nichts folgt daraus. Kein Aufruhr, kein Protest.

Die FAZ räsonierte über das deutsche Jahrhundert: Es sei eine wohlfühlend-bleierne Zeit, in der die täglichen Schreckensnachrichten der Weltkrisenherde alles erschlagen. Kommt hinzu: Die Bewältigung des Berufs, der Familie und des Alltags beherrscht die Menschen – einschließlich der Tatsache, dass die digitalisierte Demokratie das jugendliche Arbeits- und Spaßvermögen jeden Tag im Durchschnitt 6 Stunden und 28 Minuten absorbiert. Für demokratischen Protest bleibt keine Zeit.

Der massive Verdruss über die repräsentative Demokratie – so meine These – führt aber nicht zu einem Zugewinn an Einfluss der sozialen Bewegungen und des außerparlamentarischen Protests. Die Kritik an der repräsentativen Demokratie lässt sich nicht in ein größeres Engagement für die direkte Demokratie transformieren.

Dem verbreiteten Bild, die Republik habe eine ungeheuer bewegte Bürgergesellschaft, die ihre Bürgermacht wirkungsvoll gesteigert hat, widerspreche ich. Natürlich sind die Selbstermächtigungen der BürgerInnen immer wieder beeindruckend, und auf internationalen Konferenzen wird die deutsche Balance von repräsentativer und direkter Demokratie des Öfteren als spannend gelobt. Aber mal ehrlich: Mit den massenhaften Bewegungen auf den Fanmeilen des deutschen Weltmeisterfußballs können die Bürgeraufbrüche nicht annähernd mithalten.

Vorzeigbare Erfolge

Sicher, die Mobilisierung der Anti-AKW-Bewegung oder der in Europa fast einzigartigen Bündnisse gegen Rechtsextremismus wie etwa „Dresden Nazifrei“ sind hoch zu veranschlagen. Auch die Rekommunalisierungen der Wasser- und Energieversorgung sind ein vorzeigbarer Erfolg. Aber es gibt viele Themen, für die es derzeit unmöglich scheint, die Menschen zu mobilisieren.

Kinder und Karriere lassen sich einfach nicht vereinbaren, klagen zusehends mehr Mittelschichtseltern. Und es geht doch. Alles eine Frage der Verhandlung. Den Beweis finden Sie in der taz.am wochenende vom 27./28. September 2014. Außerdem: Wir könnten alle in Grand Hotels leben, wirklich. Ein Visionär rechnet das vor. Und: Warum das zweite Album von Kraftklub doch nicht scheiße ist. Ein Gespräch. Am Kiosk, eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo.

Sozialproteste gegen die zunehmende Verarmung breiter Bevölkerungsschichten: Fehlanzeige. Fast alle Erwerbslosen-Initiativen sind aufgelöst. Anti-Banken- und Finanzmarktproteste: ganz kleine Blümchen. Occupy: ein peinliches Desaster. Blockupy: ein klassisches linkes Bündnis mit einer fundierten Kritik an der EU- und EZB-Politik, aber blutleer in Allianzen und provozierenden Aktionen. Massenmobilisierungen im Bildungsbereich sind seit dem Bildungsstreik 2009/2010 verstummt. Gegen den NSA-Skandal: nichts. Und der Protest gegen die Rüstungsexporte in menschenrechtsverbrecherische Länder wie Saudi-Arabien durch das respektable Bündnis „Aktion Aufschrei – Stoppt den Waffenhandel!“? Am Bodensee, in Kassel, München, Berlin und Oberndorf organisierten sie oft pfiffige Proteste, 100 bis 300 Menschen kamen. Aber Massenmobilisierung? Nicht möglich. Die große Mehrheit der Bevölkerung ist gegen Rüstungsexporte in den Nahen Osten, Algerien und Indonesien – und tut nichts.

Neben dem Mythos von den Massenprotesten gehört auch zur Wahrheit, dass die Zahl der Aktivisten in den sozialen Bewegungen, die mit langem Atem dicke Bretter bohren, vergleichsweise überschaubar ist. Bei Campact, bei attac, bei den Menschenrechts- und Bürgerrechtsorganisationen der Republik sind es meist nicht mal 50 Leute, die den Laden schmeißen. Im Klartext: Die demokratische Legitimation von vielen Bewegungen ruht auf erstaunlich wenigen Schultern und Köpfen. Die früher unverzichtbaren Schüler und Studierenden sind angesichts von Turbo-Abitur und Bachelor-Master-Wahn meist nur noch zu Events mit flashmobs temporär mobilisierbar.

Natürlich gibt es Erfolge, wie sie etwa die Anti-AKW-Bewegung und die Bündnisse gegen Rechtsextremismus vorzuweisen haben. Natürlich ist es auch ein Erfolg vielfältiger außerparlamentarischer Bewegungen, dass die Bereitschaft, ein TTIP-Abkommen auszuhandeln und zu unterzeichnen, bei den europäischen Regierungen inzwischen als höchst zweifelhaftes Unternehmen angesehen wird.

Demokratisierungsvorhaben auf Eis

Aber die Niederlagen sind niederschmetternd: Stuttgart 21 wird – trotz milliardenschwerer Mehrbelastungen – vorerst gebaut. Die NSA und die deutschen Geheimdienste können sich angesichts bisher ausgebliebenen Proteste entspannt zurücklehnen. Eine Frauenbewegung der geschlechterdemokratischen Zuspitzung gibt es nicht mehr, eine hauchzarte Männerbewegung erschöpft sich in zweimonatigen Männermonaten beim Erziehungsgeld.

Merkel kann ihre klammheimliche Rüstungsexportpolitik zur „Ertüchtigung von Kriegseinsätzen“ fortsetzen. Ursula von der Leyen und Andrea Nahles können fast eine Million Hartz-IV-Empfängern Geldstrafen wegen terminlicher und anderer Versäumnisse aufbrummen, ohne dass es einen gesellschaftlichen Aufschrei gibt. Alle Demokratisierungsvorhaben für bürgernähere Beteiligungspolitik sind in der GROKO auf Eis gelegt. Konzepte zur Reduzierung der europäischen Jugendarbeitslosigkeit werden noch nicht einmal verhandelt. Banken müssen weder ihre Entflechtung noch die wirkliche Einschränkung ihrer oft verbrecherischen Produktpalette fürchten. Die Asyl- und Flüchtlingspolitik kann die Festung in Europa zementieren, trotz aller verzweifelter Proteste an der türkisch-griechischen Grenze oder in den Flüchtlingscamps in Berlin und anderswo.

Die Herrschenden haben gelernt

Schließlich ist das demokratische Mittel des zivilen Ungehorsams – gewaltfrei, gewissensmotiviert, auf legale Veränderungen orientiert und bewusst Regeln verletzend – ziemlich auf den Hund gekommen. Die Herrschenden haben hinzugelernt, sie wissen, wie sie den Protest am langen Arm verhungern lassen können. Der zivile Ungehorsam selbst ist weniger als früher eingeübt und selbstverständlich. Vor allem junge Leute sind merkwürdig harmonisch orientiert, sie orientieren sich eher an Fernsehbildern des bemalten Protests als den Herrschenden wirklich vor das Schienbein zu treten. Als in Stuttgart die Räumungen des Schlossgartens und Bahnhofs verkündet wurden, hatten sich fast 2.000 Menschen für Aktionen des zivilen Ungehorsams eingetragen. Als es mit der Polizei zum Schwur kam, waren 400 ungehorsamsbereite Demonstranten da, von denen 300 nach der ersten Aufforderung der Polizei das Feld räumten.

Schließlich gehört zur These des marginalen Zugewinns der sozialen Bewegungen auch ein selbstkritisches Wort zur Binnen-Demokratie. Der Anspruch der flachen Hierarchien, der Mitmach-Möglichkeiten, der Geschlechterdemokratie und der basisdemokratischen Entscheidungen hat in manchen Bewegungen erhebliche Schrammen. Basisdemokratische Entscheidungen sind oft von Wenigen gesteuert, es gibt Klüngeleien vom Feinsten, Selbstreflexion findet nicht statt. Dass junge Leute sich oft abwenden, hängt auch damit zusammen, dass die Basisdemokratie sehr altbacken daherkommt. Viele misstrauen beidem: der repräsentativen Demokratie und der direkten.

Peter Grottian, 72, ist Hochschullehrer für Politikwissenschaft an der FU Berlin und engagiert in mehreren sozialen Bewegungen.

Die repräsentative Demokratie abzuschaffen, ist völlig unrealistisch wie auch die etwas naive Vorstellung, die Herrschenden wären an einer mehr Demokratie versprechenden Reform interessiert. Die Selbstermächtigung im Sinne direkter Demokratie ist schon der Schlüssel dafür, die repräsentative Demokratie unter Druck zu setzen, eine neue Balance von direkter und repräsentativer Demokratie herzustellen. Dazu gehört massenhaftes politische Engagement mit mehr zivilem Ungehorsam. Man kann Erfolg damit haben. Denn die Herrschenden sind viel unsicherer und machtopportunistischer, als wir denken.

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