Debatte Syrien: Der Sieg wird kommen

Der Damaszener Filmemacher Orwa Nyrabia verschwand vor 2 Wochen spurlos. Er war eine wichtige Stimme des Widerstands – er war „herzversorgt“.

Wie lange wird der Kampf um Syrien noch gehen? Bild: dapd

Ich konnte es einfach nicht lassen, ich musste Orwa Nyrabias Facebookseite täglich einen Besuch abstatten. Inmitten dieser Flut von Gefühlen, Liebe, Wut und Schmerz, waren seine Kommentare für mich wie ein Kompass.

Orwas Blick ist immer scharf und dabei nie unsensibel. Inmitten der Revolution auf Klarheit und Deutlichkeit zu bestehen, ist keine Stilfrage. In Zeiten, in denen die Unterdrückungsmaschinerie außer Rand und Band geraten ist, bedeutet Klarheit, der Panik, der Verzweiflung doch noch etwas entgegenzusetzen.

Genau an dieser Klarheit fehlt es bei vielen syrischen Intellektuellen oder angeblichen Anführern der syrischen Zivilbewegung. Ein Großteil von ihnen hat den Volksaufstand ja längst im Stich gelassen. Manche taten es aus Angst, manche aus Überheblichkeit, andere wiederum scheinen irgendwo festzustecken, in ideologiegetränkten Debatten darüber, wie ein Volksaufstand idealerweise auszusehen habe.

ist syrischer Schriftsteller und schreibt vor allem Theaterstücke.

1980 geboren, wuchs al-Attar in Damaskus in einer Mittelschichtsfamilie auf und hat dort und in London Englische Literatur und Theaterwissenschaften studiert.

Er war als Dramaturg für die Damaszener Theatergruppe Studio Theatre Company tätig, die auch mit jugendlichen Häftlingen arbeitete. 2007 veröffentlichte er „Withdrawal“ (Rückzug). Das Kammerspiel handelt von der ersten Liebe unter den Bedingungen einer autoritären Gesellschaft.

Mit „Could you please look into the Camera“ (2011) wurde al-Attar international bekannt. Das Thema: Folter und Voyeurismus. Wie gehen Betroffene und Künstler mit der Gewalterfahrung um? Das Stück wurde unter anderem in New York, Seoul und Berlin gezeigt und unlängst auch in Beirut. In Syrien konnte al-Attar bislang nicht publizieren.

Orwa hingegen unterstützt den Aufstand auf solide, schnörkellose Weise. Jeder, der ihn kennt, oder je mit ihm zusammen gearbeitet hat, weiß das. Entweder man liebt ihn oder eben nicht, entweder man bewundert seine Arbeit, oder eben nicht. Wenn Orwa etwas will, dann zögert er nicht lange. Egal, ob es darum ging, jungen Filmemachern zu Stipendien zu verhelfen, oder darum, eigene Dokumentarfilme zu drehen oder die Filme von anderen Regisseuren zu produzieren. Egal, ob es darum ging, in einem Land, in dem die Zensur alles überschattet, das allererste Dokumentarfilmfestival „Doxbox“ ins Leben zu rufen – Orwa träumt und handelt dann.

Er fehlt und ist noch da

Mag sein, dass uns Orwas Posts in diesen Tagen fehlen. Mag sein, dass es uns jedes Mal einen Stich versetzt, wenn wir stattdessen all die Fotos von ihm sehen, die jetzt aus Solidarität überall im Netz kursieren. Doch unseren Geist und auch unser Herz können wir immer noch mit Orwas alten Worten versorgen.

Der Filmemacher Orwa Nyrabia, 2012. Bild: privat

„Herzversorgt“, das war das Wort, das Orwa skeptischen Syrern in einer der vielen Diskussion entgegenhielt, nachdem sie wild über die Gründe seines Mutes spekuliert hatten. Sein Herz, glaube ich, versorgt Orwa mit seinem Glauben an eine Freiheit, die dieses Land verdient hat, nach der es sich schon so lange nach ihr sehnt. Ausserdem, versorgt sich Orwas Herz, wie das Herz vieler anderer Syrer, mit der festen Überzeugung, dass unsere Forderungen rechtmäßig sind. Und mit der Gewissheit, dass Würde und Gerechtigkeit, um derentwillen wir den Aufstand ja begonnen haben, am Ende siegen werden. Der Sieg wird kommen, auch wenn es noch eine Weile dauern wird.

Und Orwas Gefängniswärter? Werden sie auch irgendetwas aus seinen Worten lernen? Oder fragen sie sich nur: „Wie schaffen wir es, das Kino gefangen zu nehmen? Wie können wir ein Bild inhaftieren? Einen Gedanken festnehmen?“ Es wird ihnen nicht gelingen. Sie können Orwa gefangen nehmen, aber die Freiheit mitsamt ihres Träumers zu verhaften, das ist unmöglich. Womöglich wissen sie das noch nicht.

Meine Erinnerung kämpft

Ich stelle mir gerade eine Szene vor, in der eine Kinoleinwand in einer Zelle gefangen gehalten wird, hinter einem düsteren Metallvorhang. Vor der Zellentür patrouilliert ein Wächter, eine Pistole baumelt an seiner Hüfte, eine dicke Brille klemmt auf seiner Nase. Eine – selbst für die Terry Gilliam‘s oder Tim Burtons dieser Welt – ziemlich irrwitzige Szenerie. Doch selbst wenn sie tatsächlich das Kino vernichten wollen. Was ist dann mit den versteckten Filmrollen? Und mit den Negativen? Und den Bildern, die uns im Gedächtnis hängengeblieben sind?

Ich werde, gewappnet mit Orwas Worten, und den Filmen, die er uns beim Doxbox-Filmfestival gezeigt hat, herumreisen, ganz wie es mir passt. Glaubt ihr wirklich, ihr könnt unser Gedächtnis inhaftieren?

Alles wird uns weiterhin an Orwa und seinen Traum vom Kino und von der Freiheit erinnern. Auch die Filme von Omar Amiralay, die Filme von Patrizio Guzman, über die Orwa uns voller Leidenschaft erzählt hat. Könnt ihr etwa all das einsperren?

Ich werde mich jetzt an all seine Worte und an alle Filme, die er uns je gezeigt hat, ins Gedächtnis rufen! Und dabei denselben Triumph empfinden, wie der Held in Tornatores „Cinema Paradiso“, als er die aus den Kinofilmen herausgeschnittenen Kussszenen vor sich ablaufen lässt.

Während eines kurzen Berlinbesuchs im vergangenen März, war ich überrascht als mir überall Plakate begegneten, die zu einer Filmreihe aus dem Programm des Doxbox-Filmfestival einluden. Dieses Festival, von dem Orwa zuerst geträumt hatte, und das er dann unter großen Mühen mit einem Team aus anderen mutigen Träumern verwirklicht hatte, ist dieses Jahr von Syrien in die ganze Welt gereist. Dutzende Städte, über die ganze Welt verteilt, haben die Vorführungen des Doxboxfestivals beherbergt. Es war eine Geste, die auf faszinierende Weise auszudrücken vermochte, dass Freiheitsliebende genauso wie das Kino in Syrien Platz haben müssen. Diese ganze öde Welt sollte an Syriens Tragödie erinnert werden.

Das letzte Mal auf der Terrasse

Das letzte Mal traf ich Orwa vor einigen Monaten im Haus eines gemeinsamen Freundes. Es war einer der letzten Abende, die ich im Kreis meiner Freunde in Damaskus verbracht habe. Einige von ihnen waren gerade aus dem Gefängnis zurückgekommen, andere hatten noch keine Ahnung, dass sie die Nächsten sein würden.

Es war eine Donnerstagnacht am Herbstanfang. Das Wetter begann allmählich angenehm kühl zu werden, und nur wenige Stunden trennten uns noch vom Anbruch des Freitags. Unser Gelächter überspielte unsere ängstliche Anspannung, in Erwartung eines weiteren blutigen Protesttags. Unsere Scherze waren eine Art, mit unserer Sorge umzugehen, was wohl ein weiterer Tag des Demonstrierens an Opfern kosten würde. Und Orwa, wie üblich, lächelte und spaßte, versprühte Optimismus und Zuversicht, und erzählte uns lustige Anekdoten aus der Revolution.

Aus ihm sprach die Entschlossenheit, diesen Weg, von dem wir so lange geträumt hatten, gemeinsam bis zum Ende zu gehen. Wir saßen auf einer großen Terrasse, und der Nachthimmel über uns schien auf einmal ganz nah zu sein. Nur dieses eine Bild von Orwa in jener Nacht werde ich mit mir tragen.

Nie war der Himmel so nah an den Syrern wie jetzt. Lange und fest sehen sie nach oben und in ihn hinein und senken den Blick nicht mehr zu Boden, so wie sie es jahrzehntelang zu tun pflegten. Sie haben jetzt die Wahl: Entweder sie steigen zu ihm auf, als Märtyrer, oder sie bauen aus diesem Himmel ein Dach für eine freie Heimat, die kein andere Deckelung mehr kennt als den Himmel selbst.

Aus dem Arabischen übersetzt von Sandra Hetzl

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Das finden Sie gut? Bereits 5 Euro monatlich helfen, taz.de auch weiterhin frei zugänglich zu halten. Für alle.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.