Der Arabische Frühling in Marokko: Marokko: Königliche Reformen

Marc Dugge, damals ARD-Korrespondent in Rabat, beschreibt im Mai 2011, welche Entwicklung der "Arabische Frühling" in Marokko genommen hat.

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Artikel aus: Thomas Schmid/ Frank Nordhausen (Hg.): "Die arabische Revolution", Ch. Links Verlag, Berlin. Mit freundlicher Genehmigung des Autors und des Verlags.

Natürlich haben die Revolten in Tunesien und Ägypten auch Marokko nicht unbeeindruckt gelassen. Gerade das Beispiel Marokko zeigt aber, dass der vielzitierte »Dominoeffekt« in der arabischen Welt (im Sinne einer kontinuierlichen Abfolge von politischen Umstürzen) nicht oder zumindest nicht kurzfristig eintreten muss. Zwar gibt es, was die wirtschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen der verschiedenen Länder betrifft, durchaus Gemeinsamkeiten: So hat auch Marokko eine hohe Jugendarbeitslosigkeit und Defizite bei Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. Anders gestaltet sich allerdings das Verhältnis des Volks zu seinem Machthaber. Dies hat einen entscheidenden Einfluss auf die Dynamik der Proteste.

In Tunesien wie in Ägypten waren die Präsidenten Ben Ali und Mubarak zu Feindbildern geworden. Sie galten als Symbol-figuren für Korruption, Unterdrückung, Nepotismus und Klientelismus. Ihre Anhäufung von Geld und Macht empfanden viele Menschen als maßlos und illegitim. Die Rebellion konnte dieses Ausmaß annehmen, weil es klare Feindbilder gab. Große Teile der Bevölkerung fühlten sich in der Wut auf diese Feindbilder vereinigt. Im Fall von Marokko sind diese Voraus-setzungen nicht gegeben. Zwar gingen auch hier Zehntausende auf die Straße, um demokratische Reformen und den Rücktritt der Regierung zu fordern. Aber König Mohammed VI. hat die Chance, aus dieser Protestwelle nicht beschädigt, sondern sogar gestärkt hervorzugehen. Um das zu verstehen, muss man einen genaueren Blick auf das Verhältnis der Marokkaner zu ihrem König und auf die Ziele der Protestbewegung werfen.

Die Monarchie als Garant der Stabilität

Marokko wird seit Hunderten von Jahren von arabischen und berberischen Herrschergeschlechtern regiert, seit dem 17. Jahrhundert von der Dynastie der Alaouiten. Die Alaouiten stammen erklärtermaßen vom Propheten Mohammed ab. Das gilt auch für den derzeitigen König Mohammed VI. Er ist somit nicht nur politisches, sondern auch religiöses Oberhaupt des Scherifen-Reichs – ein Umstand, der ihm zusätzlich Autorität und Ansehen verleiht. Der König wacht im Verständnis vieler Marokkaner über ein ethnisch und kulturell sehr heterogenes Land. Er gilt traditionell als Identitätsstifter und als Garant der Stabilität und Einheit Marokkos. Das kam insbesondere in der Kolonialzeit zum Tragen.

Der Neubegründer der Monarchie: Mohammed V.

Marokko war seit 1912 französisches Protektorat. Sultan Mohammed Ben Jussuf (der spätere König Mohammed V.) wird in den 1930er und 1940er Jahren zur Leitfigur des Widerstands. Als 1953 die Opposition immer lauter die Unabhängigkeit von Frankreich fordert, sieht sich die Besatzungsmacht gezwungen, den ruhigen, charismatischen Mann ins Exil zu schicken. Eine höchst unkluge Maßnahme. Der Sultan wird in der Heimat nur noch populärer. Aufgrund des Drucks der Straße gibt Paris schließlich nach. Am 16. November 1955 landet der Sultan auf dem Flughafen von Rabat – und zieht vor jubelnden Untertanen in die Stadt ein. Kurze Zeit später verkündet er die Unabhängigkeit Marokkos und lässt sich als Mohammed V. krönen. Von der ersten Stunde der Unabhängigkeit im Jahr 1956 an spielt der König so die zentrale politische Rolle im Land. Er hatte das Kunststück vollbracht, sich als traditioneller Herrscher an die Spitze einer Revolte zu stellen.

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Der Bewahrer: Hassan II.

Mohammed V. ist den Marokkanern bis heute in guter Erinnerung geblieben. Das gilt – vielleicht überraschend – auch für seinen Sohn und Thronfolger, Hassan II. Marokkaner loben noch heute Hassans Charisma, seine Intellektualität, Durchsetzungskraft und Verwurzelung im Islam. Die Erinnerungen an seine harte Herrschaft stehen bei vielen offenbar nicht im Vordergrund.

Hassan II. besteigt 1961 den Thron. Der König ist der religiösen Tradition verhaftet und legt ein absolutistisches Staatsverständnis an den Tag, wonach er sich als Gesandter Gottes sieht. Sein Auftrag: den islamischen Glauben seines Volkes zu bewahren und den Zusammenhalt der marokkanischen Gesellschaft zu sichern. Die Einstellung des Königs gegenüber westlicher Modernität sollte sich, wie Mohammed Khallouk treffend beschreibt, als selektiv erweisen.1 Einerseits will Hassan II. Marokko modernisieren und sucht den Schulterschluss mit Europa und den USA. Er versucht sogar, die Aufnahme Marokkos in die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG), Vorläuferin der Europäischen Union (EU), zu erreichen. Andererseits legt Hassan II. keinen gesteigerten Wert darauf, Demokratie und Menschenrechten in seinem Reich Geltung zu verschaffen. Das zeigt sich etwa in der ersten Verfassung Marokkos, die er im Jahr 1962 der Öffentlichkeit präsentiert. In ihr werden dem König sehr weitgehende Rechte eingeräumt: So ernennt der Monarch Minister und den Ministerpräsidenten, im Ministerrat hat er den Vorsitz. Verschiedene Verfassungsartikel erlauben ihm, unliebsame Gesetze zu verhindern – oder genehme durchzudrücken. Sein Vorsitz im »Hohen Rat der Richterschaft« ermöglicht ihm, auf Gerichtsurteile Einfluss zu nehmen. Ganz klar: Eine Gewaltenteilung ist im Marokko Hassans II. nicht gegeben.

Regimegegner werden konsequent verfolgt und verhaftet, viele gehen ins Exil. Aber auch dort entkommen Oppositionelle nicht immer dem langen Arm des Regimes: Die Umstände der Ermordung des charismatischen linken Politikers Mehdi Ben Barka 1965 in Paris sind bis heute ungeklärt. »Années de plomb«, »bleierne Jahre«, nennen Marokkaner die härteste Zeit der Regentschaft von Hassan II. Gegen Ende seiner Herrschaft lockert der krebskranke König die Zügel immer mehr; möglicherweise um seinem Sohn und erklärten Thronfolger Mohammed einen sanfteren Übergang zu ermöglichen. So wird 1996 in einer Verfassungsreform die Kontrollfunktion des Parlaments gegenüber der Regierung gestärkt. Auch wird eine zweite Kammer im Parlament eingerichtet.

Die Macht des Königs schränken diese Reformen jedoch nicht wesentlich ein. In Artikel 19 heißt es weiterhin: »Der König ist der höchste Vertreter der Nation, Symbol ihrer Einheit, Garant ihres Fortbestandes, der über die Achtung des Islams und der Verfassung wacht.« Ahmed Benchemsi, der bis vor kurzem Chef des einflussreichen Wochenmagazins TelQuel war, sagt dazu: »Der König hat die absolute Macht. Die einzige Begrenzung ist Artikel 19 der Verfassung. In ihm ist festgelegt, dass nur der König´selbst seine Macht begrenzen kann. Anders gesagt: Wenn sich die Herrschaftsform in Marokko ändern soll, dann beschließt das der König ganz allein.« Artikel 23 der Verfassung besagt: »Die Person des Königs ist unangreifbar und heilig.« Kritik an ihm ist damit untersagt. Das bekam auch schon Ahmed Benchemsi zu spüren – immer wieder wurde er wegen Majestätsbeleidigung angezeigt.

In Marokko gilt der Dreiklang »Gott, Vaterland, König« – und damit scherzt man nicht. Als ein 18-jähriger FC-Barcelona-Fan aus der Nähe von Marrakesch 2008 »Gott, Vaterland, Barça« an eine Mauer sprayte, wurde er zu 18 Monaten Haft verurteilt. (Er kam allerdings vorzeitig auf freien Fuß.) Die Lektion: An der Unantastbarkeit der Monarchie hat sich nichts geändert. Auch wenn sich das gesellschaftliche Klima in Marokko unter König Mohammed VI. gewandelt hat.

Der leise Herrscher: König Mohammed VI.

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Man weiß nicht viel über ihn: Es heißt, dass er schnelle Autos liebt, gern Jetski fährt – und oft privat ins Ausland reist. Bei Staatsempfängen oder Gipfeln lässt er sich dagegen häufig von seinem Bruder Moulay Rachid vertreten. Der König ist scheu. Medienscheu zumindest. Anders als sein Vater lässt Mohammed VI. kaum Journalisten an sich heran. Der Spanier Ferran Sales bekommt 1997 die seltene Gelegenheit, mit dem damaligen Erbprinzen ein Interview zu führen. »Das Interview hatte einen langen und komplizierten Vorlauf, in dem die Fragen abgesprochen wurden. Beim Interview hat der Prinz dann so gewirkt, als hätte er alle Antworten auswendig gelernt. Das einzig Interessante waren die Fotos von ihm, die mein Kollege geschossen hat. Eines zeigt einen traurigen Prinzen, einen Prinzen, der uninteressiert wirkt – für mich seine wahre Geisteshaltung in dieser Zeit«, sagte Sales dem ARD-Hörfunk.2 Zwei Jahre später, 1999, stirbt Hassan II. – und Sohn Mohammed, erst 35 Jahre alt, besteigt den Thron.

Eine seiner ersten Amtshandlungen: Er schasst den berüchtigten Innenminister seines Vaters, Driss Basri. So erwirbt er sich rasch den Ruf eines Reformers. Mohammed gilt als einer, der einen Schlussstrich unter die Regentschaft seines Vaters ziehen und das Land auf sanfte Art in die Moderne führen will. Ein Zeichen dafür ist seine Heirat mit Lalla Salma, einer blondgelockten Informatikerin aus Fes. Hassan II. besaß noch einen Harem, seine Frauen waren vor den Blicken der Öffentlichkeit geschützt. Lalla Salma weiht dagegen Kulturfestivals ein, auf Fotos steht sie neben ihrem Mann, während der gemeinsame Sohn die Kerzen auf der Geburtstagstorte ausbläst. Mohammed VI. kennt die Bedeutung von Symbolen. Beraten wird der König unter anderem von André Azoulay, der schon für Hassan II. gearbeitet hat: »Seine Majestät Mohammed VI. hat etwas Tolles hinbekommen«, sagt Azoulay. »Er hat es geschafft, alle Errungenschaften, die er vorgefunden hat, zu optimieren, zu stabilisieren, zu festigen. Und gleichzeitig eine Vision zu entwerfen, die noch ambitionierter ist, noch gewagter, kreativer und fortschrittlicher. Die Herausforderung für Marokko ist die: Je besser wir werden, je mehr wir reformieren, nach vorn kommen, desto höher sind die Erwartungen. Das ist logisch.«3

Tatsächlich hat sich viel getan in Marokko. Die Kulturszene ist lebendiger geworden, die Presselandschaft vielfältiger, Frauen haben dank eines neuen Familiengesetzes mehr Rechte als früher. Straßen wurden gebaut, schnelle Internetverbindungen gelegt, die Wasser-, Telefon- und Stromversorgung verbessert. Mohammed VI. versteht sich als Bürgerkönig (»monarche citoyen «)4 – als Regenten, der nah am Volk ist. Über seine Stiftung versucht er, ein soziales Gewissen zu zeigen. Mit großem Pomp weiht er laufend Sozialprojekte ein, etwa Behindertenwerkstätten oder Krankenhäuser. »Seit dem Beginn seiner Regentschaft zieht Mohammed VI. einen Besuch bei den Benachteiligten der Gesellschaft internationalen Konferenzen vor«, schreibt der französische Marokkospezialist Pierre Vermeren. Und schildert, dass schon seit Anfang der 1990er Jahre sorgfältig am Image des »Königs der Armen« gebastelt wurde – mit Erfolg.5 Kritiker merken allerdings an, dass die karitativen, PR-trächtigen Aktionen des Königs das Fehlen einer echten Sozialpolitik verschleiern. Wahr ist auch, dass Mohammed VI. zwar ein »König der Armen« sein mag, nicht aber ein armer König. Mohammed VI. ist der wichtigste Unternehmer und Versicherer seines Landes – und laut dem Forbes-Magazin der siebtreichste König der Welt.

Der Frust über die bestehenden Verhältnisse

Marokko gibt sich unter Mohammed VI. modern – doch kann das über die schwache wirtschaftliche Situation des Landes und die gravierenden sozialen Probleme nicht hinwegtäuschen. Marokko ist das wirtschaftliche Schlusslicht im Maghreb. Das Pro-Kopf-Einkommen ist laut aktuellen Daten von 2010 nur halb so hoch wie in Tunesien, das Durchschnittseinkommen liegt bei umgerechnet 300 Euro im Monat.

Zwar wächst die marokkanische Wirtschaft nach offiziellen Angaben um rund fünf Prozent jährlich – doch Beobachter vermissen Anzeichen für einen nachhaltigen Aufschwung. Ausländische Investoren sind zurückhaltend. Intransparenz, Korruption, mangelnde Rechtssicherheit und Bürokratie sind für Firmen die wichtigsten Hemmnisse, sich in Marokko zu engagieren. Dazu kommt ein Mangel an qualifizierten Arbeitskräften. So verharren viele Marokkaner in der Arbeitslosigkeit, auch junge Menschen. Selbst Universitäts-abgänger müssen sich mit Gelegenheitsjobs (etwa in Call-Centern) durchschlagen. Sie sehen wütend mit an, wie interessantere Posten an Sprösslinge aus Familien verteilt werden, die Geld und Einfluss haben. Vetternwirtschaft, Nepotismus und Klientelismus sorgen dafür, dass viele sich von der Entwicklung des Landes ausgeschlossen fühlen. Gerade junge Menschen wollen Marokko daher den Rücken kehren und versuchen, auf legale oder illegale Weise ins Ausland zu gelangen. Die Familien helfen häufig, die teuren Schlepper zu bezahlen. Nüchtern betrachtet handelt es sich um eine Investition in die Zukunft: Viele marokkanische Familien leben fast ausschließlich von den Überweisungen ihrer Verwandten aus dem Ausland. Das Geld aus Europa wird dringend gebraucht, denn die Lebenshaltungskosten steigen immer mehr, besonders für Nahrung und Wohnraum.

Um Hungerrevolten wie in den 1980er Jahren zu verhindern, subventioniert der Staat Grundnahrungsmittel wie Brot und Öl, aber auch Sprit und Gas durch die »caisse de compensation«, die Kompensationskasse. Ökonomen kritisieren das heftig: Zum einen fehle damit Geld für eine echte Sozialpolitik, zum anderen profitierten auch die Reichen Marokkos von den Subventionen. Und auch wenn der Staat hohe Summen in den sozialen Wohnungsbau investiert, leben noch immer viele Marokkaner in ärmlichsten Verhältnissen. Im Hohen Atlas erfrieren jedes Jahr Menschen, weil sie sich im Winter keine Heizung leisten können, während sich unten im Tal, in Marrakesch, die Schönen und Reichen feiern. Keine Frage: Die Unterschiede zwischen Arm und Reich sind in Marokko immer sichtbarer geworden; in Marrakesch parkt schon mal ein Ferrari neben einem Eselskarren. Der Gesellschaftsvertrag wird auf eine immer härtere Probe gestellt. Die Wut auf jene, die durch Korruption, Familienbande oder Nähe zur Macht zu Geld und Einfluss gekommen sind, ist spürbar. Die Unzufriedenheit hat nicht nur eine soziale und wirtschaftliche, sondern auch eine zunehmend politische Dimension. Die Protestbewegungen in Tunesien und Ägypten veranlassen Marokkaner, einen genaueren Blick auf die Verhältnisse im eigenen Land zu werfen.

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Die Bewegung des 20. Februar

Das Internet war in Tunesien wie auch in Ägypten ein wichtiges Mittel, um die Massen zu mobilisieren. Facebook, Twitter und Blogs halfen den Demonstranten dabei, sich zu koordinieren und miteinander zu kommunizieren. Im Internet wurden unliebsame Fotos und Videos verbreitet, die etwa die gewaltsame Niederschlagung von Demonstrationen zeigten. So konnte sich jeder ein eigenes Bild von der Brutalität der Regime machen. Dank sozialer Netzwerke bekamen die Nutzer das Gefühl, direkt an der Bewegung teilzuhaben und Diskurse (etwa mit Hilfe der Kommentarfunktion bei Facebook) beeinflussen zu können – auch jenseits der Landesgrenzen.

In Marokko wurden die Ereignisse in Tunesien mit großer Aufmerksamkeit verfolgt. »Ja, es ist möglich!«, titelte das regierungskritische Magazin TelQuel – und freute sich unverhohlen darüber, dass es möglich ist, die versteinerten politischen Verhältnisse im Maghreb zu ändern. Chefredakteur Karim Boukhari schrieb: »Viele von uns dachten, dass die Zeit der Revolutionen vorbei sei. (…) Viele dachten, dass die Straße, die Menge, das arabische Volk nur ein Spielzeug sei, eine modellierbare Masse, etwas, mit dem ein mächtiger Mann spielen kann, das er kontrollieren, dominieren, ausnutzen (…) kann. Um es dann zu ignorieren, zu vergessen. (…) Es ist Zeit, der ›Hogra‹ [der Missachtung und Erniedrigung], ein Ende zu bereiten, den Schmerzen, die den ganzen Körper der arabischen Welt plagen.«

Um auf ihre Misere aufmerksam zu machen, setzten sich im Januar und Februar in Marokko fünf Marokkaner in Brand. Damit folgten sie dem Beispiel des tunesischen Obstverkäufers Mohamed Bouazizi, der mit seiner Selbstverbrennung die tunesische Revolution ausgelöst hatte. Ein junger Marokkaner erlag seinen Verletzungen. Inspiriert von Tunesien wuchs auch in Marokko eine neue Bürgerrechtsbewegung heran. Auch diese organisierte sich im Internet – und rief zu Demonstrationen im Land auf. Die zunächst bedeutendsten Kundgebungen fanden am 20. Februar 2011 statt – daher nannte sich die Initiative auch Bewegung des 20. Februar (Mouvement du 20 Février). Zu Beginn gehörten der Gruppe auf Facebook nur ungefähr 50 Personen an, die meisten von ihnen zwischen 18 und 30 Jahre alt. Innerhalb weniger Tage waren es Tausende, Ende März bereits 42 000 Mitglieder. Der 23-jährige Gründer der Bewegung, Oussama El Khlifi, sagte im März: »Die Mehrzahl der Marokkaner ist arm. Die jungen Leute finden keine Arbeit. Millionen Marokkaner leben in gesundheitsschädigenden Wohnungen. Der Zugang zur Gesundheitsversorgung ist schwierig, für die Ärmsten sogar unmöglich. Die Korruption ist fast der Normalzustand, sie vergiftet die Verwaltung und die Justiz. Es gibt Einzelne, die sich von einem auf den anderen Tag bereichert haben, darunter auch Minister, Staatsangestellte und angeblich ›Gewählte‹. Es ist ein Staat der Privilegien. Uns schmerzt, dass der König dies geschehen lässt.«7

An jenem verregneten Sonntag, dem 20. Februar, gingen Zehntausende im ganzen Königreich auf die Straße, ganz überwiegend friedlich. Wie in Tunesien und Ägypten waren viele junge Menschen unter den Demonstranten. Ein Großteil von ihnen kam aus dem linken Milieu, darunter auch die »jeunes diplomés« – arbeitslose Universitätsabsolventen, die einen Job im öffentlichen Sektor forderten. Menschenrechtsbewegungen und verschiedene linke Parteien hatten sich der Bewegung ebenso angeschlossen wie Islamisten. Sowohl die vom Staat erlaubte königstreue Partei für Justiz und Gerechtigkeit (PJD) wie auch die verbotene königskritische Islamistenbewegung Al-Adl Wal-Ihsan (Vereinigung für Gerechtigkeit und Spiritualität) waren mit von der Partie. So verschieden wie die Demonstranten waren auch die Forderungen. Eine neue Verfassung, die die Demokratie stärkt – und Marokko auf den Weg einer parlamentarischen Monarchie bringt, die den Namen auch verdient. Außerdem: eine unabhängige Justiz, bessere Gesundheitsversorgung, mehr Jobs, weniger Korruption und Willkürherrschaft. Einige verlangten vom König, sich aus der Wirtschaft des Landes zurückzuziehen – und forderten den Rücktritt seines Businessberaters Mounir Majidi. Die Wut richtete sich aber nicht nur gegen Mitglieder des Makhzen (der Entourage des Königs), sondern auch gegen gewählte Politiker.

Insbesondere Ministerpräsident Abbas El Fassi geriet ins Visier der Demonstranten. Ihm wird unter anderem Ämterpatronage und Untätigkeit vorgeworfen. Mohammed VI. selbst wurde nicht angegriffen. Im Gegenteil: Einige trugen sogar Bilder des Königs mit sich. »Zu keinem Zeitpunkt haben wir die Person des Königs in Frage gestellt«, sagt Oussama El Khlifi. »Der König ist der Stolz der Marokkaner. Für uns ist die Monarchie die Garantin der nationalen Stabilität – und das wird sie bleiben.«8

Reaktion des Königs: Der Diskurs vom 9. März

Schon bald reagierte der König. In einer seiner seltenen Fernsehansprachen wandte er sich am 9. März 2011 an seine Bürger. Mohammed VI. blickte steif und mit ernster Miene in die Kameras: »Die Verfassungsreform, die wir heute ankündigen, ist ein wichtiger Meilenstein auf unserem Weg der Demokratie. Diesen Weg verfolgen wir konsequent mit umfassenden politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Reformen. Die Institutionen, der Rechtsstaat, die gute Regierungsführung sollen dabei besonders berücksichtigt werden. Ich will diese Reform – und Gott möge mir dabei helfen.« Der König gab den Reformer, der erklärtermaßen mehr Demokratie wagen will. Eine Kommission solle bis Juni eine neue Verfassung ausarbeiten. Anschließend sollen die Wähler in einem Referendum darüber abstimmen. Ein paar Pflöcke hat der König schon eingerammt: Die Machtbefugnisse des Ministerpräsidenten sollen gestärkt werden, Parteien und der Rechtsstaat ebenso. Auch sollen Menschenrechte künftig stärker berücksichtigt werden und mehr persönliche Freiheiten möglich sein.

Die junge Bürgerrechtlerin Zineb El Rhazoui war in einer ersten Reaktion überwältigt. Sie gilt als eine der vehementesten Kritiker der bestehenden Verhältnisse. 2009 hatte sie in einem Park mit Gleichgesinnten öffentlich ein Picknick veranstaltet – mitten im Ramadan. »Politisch gesehen war es ein Donner-schlag«, sagte El Rhazoui. »Der König hat alle wichtigen Forderungen der jungen Marokkaner angesprochen. Das ist ein Sieg für alle, die mutig auf die Straße gegangen sind, um für ihre Rechte zu kämpfen! (…) Wenn Mohammed VI. es ehrlich mit uns meint, wenn er nun persönlich darüber wacht, dass die Reformen auch durchgeführt werden, dann werte ich das als Zeichen seiner politischen Weisheit. Es war an der Zeit, uns zu zeigen, dass er unsere Probleme ernstnimmt.«9 Manche Kommentatoren sahen Marokko bereits auf dem Weg zu einer konstitutionellen Monarchie nach britischem oder spanischem Vorbild. In jedem Fall traf die Rede des Königs auf Zustimmung im gesamten politischen Spektrum. Sonst überaus regierungskritische Kommentatoren sprachen von einer bevorstehenden politischen Zeitenwende in Marokko. Auch Vertreter ausländischer Regierungen lobten Mohammed VI., Frankreichs Präsident und EU-Ratsvorsitzender Sarkozy nannte sein Vorgehen »mutig« und »exemplarisch«.

Die Euphorie unter den Bürgerrechtlern währte allerdings nur kurz. Am 13. März wurde eine Demonstration in Casablanca von der Polizei gewaltsam niedergeschlagen. Es soll Hunderte Verletzte gegeben haben. Unter den Demonstranten waren zahlreiche Anhänger der verbotenen islamistischen »Vereinigung für Gerechtigkeit und Spiritualität«.

Das harte Vorgehen der Polizei nährte Zweifel, ob der König es mit seinen Bekenntnissen zu mehr Demokratie tatsächlich ernst meint. Seine Rede wurde genauer unter die Lupe genommen. Mehrere Beobachter kamen zu dem Schluss, dass sich der König genügend Schlupflöcher gelassen habe. Auch nach diesem Diskurs sei er in der Lage, die politische Entwicklung entscheidend zu steuern. Eine (Selbst-)Beschneidung seiner Macht sei noch lange nicht garantiert. Die Besetzung der verfassungsgebenden Kommission mit königsnahen Rechtsexperten stieß ebenfalls auf Kritik. Thomas Schiller, Maghreb-Beauftragter der Konrad-Adenauer-Stiftung, bewertet die Rede entsprechend zurückhaltend.10 Der König habe deutlich gemacht, dass an den Kernpunkten des Systems, die er als das »Fundament« für einen neuen Pakt zwischen Thron und Volk bezeichnet, nicht gerüttelt wird. »Indirekt werden damit die Artikel 19 und 23 der Verfassung, die die herausgehobene Stellung des Königs betreffen, z. B. seine Rolle als Befehlshaber der Gläubigen, von jeder Reform ausgenommen.«11

Das verschaffe dem König weiterhin viele Möglichkeiten, auf den politischen Prozess einzuwirken. Zudem würde deutlich, dass der König auf die sozialen und wirtschaftlichen Forderungen der Demonstranten nicht eingegangen war. Die Bewegung des 20. Februar rief daher für den 20. März zu weiteren Demonstrationen auf, um den Druck auf das Regime aufrechtzuerhalten. Tatsächlich beteiligten sich erneut Zehntausende an den Kundgebungen – in Rabat etwa waren nach Meinung vieler Augenzeugen rund doppelt so viele Demonstranten auf den Straßen wie einen Monat zuvor. Sie streckten symbolisch Besen in den Himmel, um einen Rücktritt der Regierung zu fordern – und hielten Logos von Facebook und Twitter in den Händen.

Journalisten der staatlichen Fernsehsender wurden ausgepfiffen. Auch waren am 20. März auffallend wenige Porträts des Königs zu sehen. Ein ähnliches Bild bot sich bei Folgedemonstrationen im April. Die Polizei ging nun nicht mehr gewaltsam gegen die Demonstranten vor – obwohl zahlreiche Anhänger der illegalen islamistischen »Vereinigung für Gerechtigkeit und Spiritualität « präsent waren.

Der Terroranschlag in Marrakesch vom 28. April 2011 verdrängte die Reformbewegung kurzfristig aus den Medien. Ein Sprengsatz hatte in einem bei Touristen beliebten Café mindestens 17 Menschen getötet. Laut dem marokkanischen Innenminister Cherkaoui handelt es sich bei den Attentätern um radikale Islamisten. Über die Motivation der Täter und die möglichen Folgen des Anschlags für die marokkanische Politik lässt sich derzeit nur spekulieren. Allerdings hat das Ereignis auf schreckliche Weise deutlich gemacht, dass der König mit seinen Reformversprechen Terroristen unbeeindruckt gelassen hat. Viele Beobachter fürchteten, dass die Behörden nun wieder hart gegen Islamisten vorgehen würden. Nach den Attentaten von Casablanca 2003 hatte die Polizei viele Islamisten in Blitzaktionen festgenommen – und auch gefoltert. Menschenrechtler liefen Sturm.

Der marokkanische Regierungssprecher Khalid Naciri betonte nun unmittelbar nach dem Anschlag, dass das Ereignis den Reformprozess nicht in Frage stellen werde. Ähnlich äußerte sich der Generalsekretär des neu gegründeten staatlichen Rats für Menschenrechte, Mohammed Sebbar: »Würde man Reformen stoppen, täte man den Drahtziehern des Anschlags einen Gefallen. Meiner Ansicht nach ging es den Tätern darum, den politischen Wandel zu stoppen. Reformen sind das beste Mittel, um gegen sie zu kämpfen.« Tatsächlich blieben Massenverhaftungen wie im Jahr 2003 aus – was allerdings auch damit zu tun haben dürfte, dass die staatlichen Behörden das islamistische Milieu sehr viel genauer kennen und beobachten als damals. Mohammed VI. zeigte Präsenz: Er besuchte zwei Tage nach dem Anschlag den Tatort und auch Opfer im Krankenhaus. Die Bewegung des 20. Februar rief zu neuen Demonstrationen am 1. Mai auf. Tausende demonstrierten in mehreren Städten Marokkos gegen den Terrorismus und für mehr Demokratie. Porträts des Königs waren nun wieder häufiger auszumachen.

Marokko vor einer Zeitenwende?

Die königliche Rede könnte weitreichende Folgen für Marokko haben. Noch lässt sie aber viel Spielraum für Interpretationen offen: Was will der König wirklich? Sind seine Ankündigungen pure Kosmetik oder vom Willen nach tiefgreifenden Reformen getragen? Wie unabhängig ist die Verfassungskommission? Wird sie es wagen, auch eine Begrenzung der königlichen Macht zu fordern? Wie weit wird Mohammed VI. dem Ruf nach einer parlamentarischen Monarchie entgegenkommen? Ist es ihm ernst damit, Demokratie und Meinungsfreiheit in Marokko zu stärken, um tunesische oder ägyptische Verhältnisse zu vermeiden?

Und, sollte er es ernst meinen: Ist der König in der Lage, seinen Willen im Makhzen durchzusetzen? Es liegt auf der Hand, dass die Eliten im direkten Umfeld des Königs Verlierer tiefgreifender Reformen sein würden. In ihrer jetzigen Position können viele Vertreter des Makhzen Reformen ausbremsen und sich quasi im rechtsfreien Raum bewegen. Sollte es eine demokratische Entwicklung geben, würden diese Eliten sicher an Einfluss verlieren und der Quellen ihres Reichtums verlustig gehen. Möglicherweise droht einigen hohen Beamten sogar ein Prozess wegen Korruption und Machtmissbrauch. Tunesien führt den Eliten im Maghreb zur Zeit auf drastische Weise vor, was es bedeutet, wenn das Großreinemachen im Staatsapparat einsetzt. Es scheint aus heutiger Sicht (Mai 2011) unwahrscheinlich, dass sich der König dieses Großreinemachen tatsächlich leisten will bzw. kann. Daher wird es wohl auch vom Druck der Straße abhängen, wie weitreichend die Reformen letztlich sein werden.12 Auch hier hat Tunesien ein gutes Beispiel gegeben.

Allerdings hat die königliche Rede schon eines bewirkt: Marokkaner diskutieren so laut und unbefangen über die politische Zukunft ihres Landes wie seit Jahrzehnten nicht mehr. Tabus fallen, Menschen machen ihrem Ärger öffentlich Luft. Das gilt selbst für staatliche Institutionen: Ende März demonstrierten Hunderte Journalisten in Rabat und Casablanca für mehr Meinungs- und Pressefreiheit, darunter auch Mitarbeiter der amtlichen Nachrichtenagentur MAP und der staatlichen Fernseh- und Rundfunksender SNRT und 2M.

Die Rede vom 9. März hat gezeigt, dass der König als Reformer wahrgenommen werden kann. Hierin unterscheidet er sich von vielen Führern in der arabischen Welt – auch von Ben Ali und Mubarak. Mohammed VI. besitzt offensichtlich die nötige Autorität, um das Land auf einen Reformkurs zu bringen. Das liegt nicht nur an seinem Ansehen als religiöser Führer und Identitätsstifter, sondern auch daran, dass die politische Klasse bei den meisten Marokkanern kaum Vertrauen genießt. So hat Mohammed VI. derzeit keine Konkurrenz durch andere charismatische Führungspersönlichkeiten zu befürchten. In Europa und den USA genießt er Rückhalt. Der Einfluss des Auslands auf die Geschehnisse sollte nicht über-, aber auch nicht unterschätzt werden. Marokko benötigt weiterhin dringend Investitionen, Kredite und Entwicklungshilfe. Die Entwicklung in Tunesien und Ägypten setzt insbesondere die europäischen Regierungen unter Druck, ihre Zusammenarbeit mit autoritären Regimen zu rechtfertigen. Das weiß man auch in Marokko – dem bislang größten Empfänger des EU-Nachbarschaftsfonds. Mohammed VI. hat mit seiner Rede den Parteien und der Zivilgesellschaft neue Freiräume eröffnet. Es wird sich zeigen, wie diese genutzt werden können.

Anmerkung des Webmasters:

Dieser Text wurde Mitte Mai 2011 geschrieben. Kurz darauf hat der König in einer weiteren Rede seine Reformvorschläge vorgestellt. Am 1. Juli fand ein Referendum über die Verfassungsreform statt. Die politischen Kräfte Marokkos waren darüber gespalten: die meisten Parteien warben für ein „Ja“ – dafür fand am 25. Juni eine Demo in Casablanca mit 250.000 Menschen statt. Die  ‚Bewegung des 20. Februar‘ rief zum Boycott des Referendums auf; sie organisierte am 25. Juni in mehreren Städten „Nein“-Demos; u.a. folgten in Rabat rund 4.000 Menschen diesem Aufruf, in Casablanca etwa 25.000. Eine Reihe von ursprünglichen Unterstützern der ‚Bewegung des 20. Februar‘ haben sich öffentlich von dieser Boycott-Position distanziert.

Anmerkungen zum Text

1 Mohammed Khallouk: Islamischer Fundamentalismus vor den Toren Europas – Marokko zwischen Rückfall ins Mittelalter und westlicher Modernität, Wiesbaden 2008.

2 Zit. aus Marc Dugge: Der absolute Herrscher – Marokko unter König Mohammed VI., ARD-Hörfunkbeitrag, 20. 7. 2009.

3 Ebenda.

4 Der Begriff »monarchie citoyenne« ist recht unpräzise. Ich würde ihn übersetzen als »Monarchie der Bürger« – eine Monarchie, in der der König nah am Volk ist, sich um dessen Belange kümmert und von ihm getragen wird.

5 Pierre Vermeren: Le Maroc de Mohammed VI: La transition inachevée, Paris 2009.

6 TelQuel, 22. 1. 2011.

7 Maroc Hebdo International, 4. 3. 2011.

8 Ebenda.

9 Zit. nach Alexander Göbel: Marokkos König kündigt Verfassungsreform an, ARD-Hörfunkbeitrag, 10. 3. 2011.

10 Thomas Schiller: The King’s Speech. Marokkos König kündigt Reformen an, Länderbericht der Konrad-Adenauer-Stiftung, März 2011.

11 In der Rede heißt es an der entsprechenden Stelle: »Die Heiligkeit unserer unveränderlichen Werte, über die sich die Nation einig ist, nämlich der Islam als Religion des Staates, der die Religionsfreiheit garantiert, wie das Emirat über die Gläubigen, das monarchistische Regime, die nationale Einheit, die territoriale Integrität, die Demokratie, sind eine solide Bürgschaft und eine solide Grundlage, um einen historischen Kompromiss einzugehen, der die Stärke eines neuen Pakts zwischen dem Thron und dem Volk hat.«

12 Vgl. Abdeslam Maghraoui: Scenarios politiques au Maroc face à la contestation, https://fr.lakome.com/opinion/62-chroniquesdopinion/235-abdeslam-maghraoui.html (vom 28. 3. 2011 - aber nicht mehr online; die franz. Ausgabe der Regime kritischen Website 'Lakome' wurde im Oktober 2013 eingestellt).