Der Hausbesuch: Tomatenversteher aus Oberschwaben

Michael Schick ist leidenschaftlicher Tomatenzüchter. 1.300 verschiedene Sorten hat er in seinen Gewächs­häusern und in seinem Samenarchiv gesammelt.

Ein älterer Mann mit Bart hinter Tomatenpflanzen

„Eigentlich wollte ich bei 500 aufhören“, sagt Michael Schick und meint seine Tomatensorten Foto: Thomas Vogel

Im Winter, wenn die Tomatensaison längst zu Ende ist, sind in den Supermarktregalen immer noch welche zu finden. Trifft Michael Schick dort Bekannte, gibt er ihnen auch mal einen Tipp, wie sie den totalen Frust vermeiden können, denn Tomaten im Winter schmecken nicht.

Draußen: Die Katze Lätzchen durchstreift den weitläufigen Naturgarten, während Michael Schick von einer Tomatenrarität zur nächsten eilt. Verschlungene Pfade führen zu lauschigen, gut beschatteten Sitzecken, in den Beeten haben auch Beikräuter ihren Stellenwert. Ein Gleichklang zwischen Kultur und Wildnis. Wo „richtig reingestampftes Altmaterial“ mit einer Kompostauflage das Hochbeet-Prinzip aufgreift, wächst ein Dickicht aus Gemüse. Die kleinen Gewächshäuser sind die Herzkammer des Gartens, der in fließendem Übergang zur Gärtnerei wird. Einige Stöcke wachsen unter aufgespannten Regenschirmen.

Drinnen: Von allen Zimmern aus fällt der Blick nach draußen, wo das Gartenreich einen den Jahreszeiten gehorchenden, wandelbaren Schmuck beisteuert. Das holzsichtige Mobiliar ist älteren Datums, genauso wie das Haus selbst – ein ehemaliges Austragshaus für Altbauern, gelegen in der Dorfmitte von Bronnen, das wiederum in Oberschwaben liegt. Schick hat es von seiner Tante erworben, umgebaut und mit einem wintergartenartigen Anbau versehen. Früher hat der Gärtner dort ebenfalls Tomatenpflanzen großgezogen, doch mit der Zeit sah das seine Frau nicht mehr so gern. Die zweite Herzkammer des Betriebs ist in einem Nebenraum untergebracht. Es ist das Archiv mit den Tomatensamen, das zugleich Auslieferungslager ist. Wenige Holzboxen sind dafür ausreichend.Arbeitskleidung: Der Hausherr trägt gern einen Strohhut. Das gehöre sich für einen Gärtner so. Wenn er seinen Pflanzen was Gutes tun wolle, mixe er ihnen seinen „Hexentrank“ und nebele sie damit ein. Rapsöl, Backpulver und Wasser ergäben einen Cocktail, der die gefürchtete Braunfäule zumindest im Zaum hält. Für ihn ist das existenziell, bilden die Tomaten doch die Grundlage seiner materiellen Existenz.

Das Team: Schick, 60, Vollbart, Brille, hat ein phänomenales Gedächtnis. „145“, ruft ihm seine Partnerin Maria Gossner zu. „Ist die Mission Dyke“, antwortet er augenblicklich und nennt damit die Sorte, die unter besagter Nummer 145 archiviert ist. Auch fachlich sind sie ein gutes Team. Sie als Heilpraktikerin wisse um die Wirkstoffe von Pflanzen, er als Gärtner könne letztere genau bestimmen.

Ein Mann mit Strohhut steht an einem Regal mit vielen kleinen Tüten

Schick in seinem Samenarchiv Foto: Thomas Vogel

Leben, Arbeiten, Urlaub machen: Dass La Palma zum Lieblingsurlaubsziel der beiden zählt, hänge eng mit der dortigen Botanik zusammen, mit ihren vielen autochthonen, nur dort heimischen Pflanzen. Hinzu kommen noch jene mit kolonialer Herkunft. Man finde noch zahlreiche der ursprünglichen Tomaten- und Kartoffelsorten, wie sie einst aus der Neuen Welt nach Europa eingeführt worden waren. Nur bei der Frage, ob Tomaten schon auf den Frühstückstisch gehören, sind sich Schick und seine Partnerin uneins. Gossner: „Frühestens zu Mittag.“

Die Zielmarken: „Eigentlich wollte ich bei 500 aufhören“, sagt Schick. Seine Partnerin war weitsichtiger: „Ich hatte gehofft, bei Tausend wäre das Ziel erreicht“, fällt sie ihm ins Wort. Mittlerweile sind sie bei etwa 1.300 unterschiedlichen Sorten angelangt, und das Ende ist lediglich insofern abschätzbar, als dass es wohl weltweit an die 10.000 Tomatenvariationen geben muss. Manchmal flattern unaufgefordert Samen von Sorten ins Haus, die im Archiv noch nicht vorhanden sind. Auf die meisten aber stößt Schick in einschlägigen Foren in den sozialen Medien. Im Übrigen vertreibe er die Jungpflanzen und die Samen immer mit dem Zusatz „Zierpflanze“. Keine dieser Sorten, auch nicht die ganz alten, besäßen eine EU-Zulassung als Lebensmittel. Die Debatte um das EU-Saatgutverkehrsrecht erspart sich Schick an dieser Stelle.

Öffentlichkeitsarbeit: Er redet lieber über seinen legendären Auftritt in Palermo bei einem Wettbewerb. „Ich hatte ja gehofft, dort auf mir unbekannte Sorten zu stoßen.“ Italien, Sonne, Tomate, ein idealer Gleichklang – dachte er zumindest. Wie Schick erzählt, räumte er dann gleich zwei Preise ab: den für Vielfalt und den für den besten Kontakt zum Publikum. Dafür hatte er, der Tedesco, ein paar Sätze auf Italienisch eingeübt mit Kernaussagen seiner Vorgehensweise, die er noch heute runterrattern kann. Und wie immer bei diesen Gelegenheiten sein legendäres Rondell mitgebracht, bestückt mit Hunderten verschiedener Tomatensorten. Nach neuen Sorten hielt er dann aber vergeblich Ausschau.

Tomatenvielfalt: Alle Sorten in seinem Sortiment sind samenfest. Das unterscheidet sie von den Hybridsorten, wie sie Schicks Beobachtungen zufolge heute das Geschehen in Handel und Gärtnereien dominierten. Allein samenfeste Sorten würden garantieren, dass über Samen gezüchtete Nachkommen erneut die gleichen Eigenschaften aufweisen wie deren Stammpflanzen. Diese wiesen eine bessere Anpassungsfähigkeit an klimatische Veränderungen auf. Und eine vielfältigere genetische Basis bedeute eine größere Resistenz gegen Krankheiten. Nicht alle alten Sorten sind zugleich „Geschmacksbomben“, nicht alle Hybridsorten nicht mehr als „schnittfestes Wasser“, räumt auch Schick ein. „Reichhaltig in Form, Farbe, Geschmack und Konsistenz“ aber würden die Tomaten mit samenfesten Sorten und der Lust am Ausprobieren. Die roten Tomaten, sagt er, tendierten meist ins Säuerliche, die grünen, gelben, orangen und braunen, auch die grün-gelb gestreiften hingegen eher ins Süßliche. Er reicht eine grüne mit braunen Flecken. Fäule? „Nein, voll reif.“ Er erkennt es selbst erst durch vorsichtiges Drücken.

Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.

Der Einfluss der Mutter: Wie er zu den Tomaten kam, dafür gibt es zwei Schlüsselerlebnisse. Der Vater war Eisenbahner, die Mutter Hausfrau und begeisterte Gärtnerin. Von ihr hat Schick, der zusammen mit zehn Geschwistern, mit Hühnern und sporadisch auch einem Hausschwein aufgewachsen ist, diese Passion. „Ich hatte schon mit fünf Jahren ein eigenes kleines Gärtlein gehabt.“ Damals bereits sei in ihm der Berufswunsch des Gärtners gereift. Nach dem Umweg übers Wirtschaftsgymnasium folgte eine Lehre, später der Meisterbrief. Zehn Jahre war er danach in kommunalen Diensten in Pliezhausen bei Reutlingen. „Ich hatte freie Hand.“ Schick nutzte das, um Blumenwiesen anzulegen, damals eine Pioniertat.

Menschen betrachten eine grosse Schale mit vielen Tomatensorten

Tomaten gibt es in allen Formen und Farben Foto: Thomas Vogel

Schicksal: Dann traf ihn mit dem Tod der ersten Ehefrau ein Schicksalsschlag, der ihn zum Eintritt in die Landschaftsbaufirma des Bruders in der alten Heimat bewog. Die beiden Kinder, damals eins und vier, wurden dort im Kreis der Familie aufgefangen. Dort dann, und das war das zweite Schlüsselerlebnis, sah er eine Anzeige im Amtsblatt: Wer Interesse an besonderen Tomatensorten hat, solle sich nächsten Freitag auf dem und dem Hof einfinden. Der Andrang habe ihn überrascht, die Auswahl ebenso. Der Besuch wurde zum Keim seines späteren Geschäftsmodells, das er – bereits aus der Selbstständigkeit als Naturgartenbauer heraus – entwickelt hat. Alles Tomate!

Mehr Schicksal: Das zweite Glück begann damit, dass er eines Tages seiner Nachbarin eine Schüssel Äpfel schenkte: „Berner Rosenapfel“, alte Sorte, wisse er noch genau. Zwei Tage später revanchierte sie sich mit einem Apfelkuchen. Es folgte ein Grillfest. 1993 heirateten die beiden.Das Glück: Ob man ihn sich als glücklichen Menschen vorstellen dürfe? Aber ja doch, lautet die Antwort, „ich bin ja Gärtner“. Aber da durchlebe man doch auch schwierige Zeiten, oder? Schon, meint Schick, „aber wenn mal etwas kaputtgeht, entsteht daraus immer etwas Neues.“ Und was die Vielfalt betrifft, so bedeute sie doch auch, viele Sorten gerettet zu haben, die sonst vielleicht verschwunden wären.

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