Die Gräber des Balkans: Alle unsere Toten

Deutschland, Kroatien, Bosnien und Serbien: eine Reise entlang der Kriege des 20. Jahrhunderts im ehemaligen Jugoslawien.

Grabmale

Friedhof in Srebrenica, Bosnien Foto: Samir Yordmovic

Erschossen. Getötet im kroatischen Hinterland. Irgendwann im Zweiten Weltkrieg. Das Grab ist offen, das Skelett in der Erde freigelegt. Neben dem Schädel des deutschen Wehrmachtssoldaten liegt seine Erkennungsmarke. Der Volksbund wird ihn identifizieren und umbetten.

Der Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge ist ein gemeinnütziger Verein. Im Auftrag der Bundesregierung widmet er sich der Aufgabe, die Gräber der deutschen Kriegstoten im Ausland zu erfassen und zu pflegen. Er betreut 832 Kriegsgräberstätten in 46 Staaten mit etwa 2,7 Millionen Kriegstoten.

Herr Radić, der Umbetter des Volksbundes, springt in die Grube und erklärt uns Journalisten, wie man die Gebeine fachgerecht freilegt. Da die Erhaltung und Pflege der verstreuten Gräber auf Dauer nicht durchführbar sei, werden die Gefallenen durch den Umbettungsdienst ausgegraben und danach auf zentrale Kriegsgräberstätten überführt. „Allein auf dem Soldatenfriedhof in Split,“ sagt Herr Radić, „liegen inzwischen 2.637 deutsche Kriegstote.“ Noch heute werde er den Soldaten dorthin überführen.

Es ist ein sonniger Oktobertag im kroatischen Karstgebirge. Ich kenne die Gerüche, Opa und Oma haben nur ein paar Kilometer von hier in einem kleinen Bergdorf gelebt. Ich bin in Deutschland aufgewachsen, habe meine Großeltern immer in den Sommerferien besucht. Opa war im Zweiten Weltkrieg Partisan. Auf dem großen Stein vor unserem wackligen Bauernhaus hat er oft vom Krieg gesprochen. Ich schaue in das Grab und denke, dass vielleicht mein Opa diesen deutschen Soldaten erschossen hat.

Das Kriegsgräberabkommen

Der Volksbund vermutet knapp 60.000 Kriegstote des Zweiten Weltkrieges und etwa 20.000 Tote des Ersten Weltkrieges in der Balkanregion. Mindestens 46.000 Tote müssen noch geborgen werden. Sobald die Kriegsgräberabkommen in Kraft treten, könnten die Toten durch den Volksbund-Umbettungsdienst geborgen und würdig bestattet werden. Mit Kroatien gibt es bereits seit 1996 ein Abkommen, mit Bosnien und Serbien wird noch verhandelt.

Wir sind ein paar Kilometer weiter gefahren. Im Gänsemarsch laufen wir über ein Feld zu einer Karsthöhle. „Links und rechts von uns“, sagt Herr Radić, „liegen noch die Minen aus dem Kroatienkrieg.“ Einige meiner Verwandten haben damals gegen die Serben gekämpft. Herr Radić sagt, dass wir unsere Augen auf den Boden richten sollen, es gebe hier giftige Vipern. Ich erinnere mich, wie meine Mutter, als wir in den Sommerferien Oma und Opa besuchten, den gleichen Satz sagte.

Mirsad Tokača, Dokumentar

„Mahnung an jene, die gerade versuchen, die Nationen mit ihren Ressentiments gegeneinander auszuspielen“

Wir stehen vor der Höhle. Herr Radić erklärt, dass man die Karsthöhlen in allen drei Kriegen des 20. Jahrhunderts als Begräbnisstätte genutzt habe. Dadurch habe man sich, so Herr Radić, das mühsame Ausheben der Gräber erspart. In dieser Höhle lägen die Gebeine von fünf Wehrmachtssoldaten. Er fragt, ob sich einer von uns in die Höhle hinabseilen lassen wolle. Wir schütteln alle den Kopf und laufen im Gänsemarsch zwischen den Minen wieder zurück zu unserem Auto. Niemand wurde von einer giftigen Viper gebissen.

Bald darauf sind wir in Knin, oben auf der Burg. Während des Kroatienkrieges stand die Stadt unter serbischer Kontrolle. Die kroatische Bevölkerung wurde in den Jahren 1991 und 1992 nahezu vollständig vertrieben. Die Häuser wurden geplündert, die katholischen Kirchen und Klöster verwüstet. Drei Jahre später, 1995, wurde Knin während der Militäroperation Oluja durch die kroatische Armee zurückerobert. Jetzt waren es die Serben, die flüchten mussten.

In den Bergen über Mostar

Der Blick von hier oben ist schön: Im Tal die Stadt, umgeben von den bewaldeten Bergen des Dinara-Gebirges. Ich erinnere mich, wie ich mit Mutter in meiner Kindheit hier oben stand und wie friedlich und lebenslustig Knin damals war. Und jetzt: Nahezu nur noch alte Menschen und Verbitterung und Nationalismus und ethnische Säuberungen und eine Vergangenheit, die in den Träumen der Menschen wütet. Wir verlassen Kroatien Richtung Mostar, Richtung Bosnien und Herzegowina.

In den Bergen über Mostar soll ein „Friedhof des Friedens“ entstehen, der, so die Initiatoren, alle ehemals verfeindeten Völker in der Trauer um die Toten vereinen möge. Wir erreichen das windige Hochplateau in der Abenddämmerung. Zu sehen sind eine kleine katholische Kapelle und ein paar Kreuze. Vier Männer stehen neben den Kreuzen und erläutern uns ihr Vorhaben. Die Männer sind ein kroatischer Ex-General, ein katholischer Priester und ihre zwei Gehilfen.

Sehr schnell wird klar, dass hier alles andere als ein „Friedhof des Friedens“ entstehen soll. Ihr Plan: ein gemeinsamer Friedhof – ohne Serben, Kommunisten und Bosniaken – für die kroatisch-faschistischen Ustascha-Kämpfer und die gefallenen deutschen Wehrmachtssoldaten. Im Tode, denke ich, sollen hier also die einstigen Waffenbrüder des Zweiten Weltkrieges wieder vereint werden. Das Angebot an den Volksbund: Im Gegenzug für die Gebeine von 18 gefallenen deutschen Soldaten, die sie bereits ausgegraben haben, soll sich der Volksbund an der Finanzierung des Friedhofs beteiligen.

Brücke über Fluss

Die Brücke von Mostar Foto: Jason Langley

Was für ein makaberer Vorschlag, denke ich. Der Volksbund wurde von fragwürdigen Nationalisten getäuscht. In der kroatischen Herzegowina versucht man – ebenso wie in Kroa­tien – die Geschichte neu zu erfinden. Die einstigen faschistischen Tätervölker werden zu Opfern des gesamtjugoslawischen Kommunismus umdefiniert. Die vier Männer – der Ex-General, der Priester und ihre zwei Gehilfen – laden uns zum Essen ein. So war es vorher vereinbart worden. Die Pressesprecherin des Volksbundes ist nervös, weiß nicht so recht, wie sie mit der neuen Situation umgehen soll. Um einen Eklat zu vermeiden, nimmt sie die Einladung an. Es war eine angespannte Atmosphäre beim Abendessen.

Die Brücke von Mostar

Der nächste Morgen in Mostar. Die Sonne ist gerade über den hohen Bergketten aufgegangen. Es ist eine bildhübsche Stadt mit spitz in den Himmel ragenden Minaretten, kleinen Klöstern, alten Steinhäusern, engen Altstadtgassen. Ich laufe über die Stari most – jene 1566 von dem osmanischen Architekten Mimar Hayreddin über den Fluss Neretva erbaute Brücke, die mit einem eleganten Schwung den Westen mit dem Osten der Stadt verbindet.

Ich erinnere mich an die Fernsehbilder von damals, sehe, wie die Brücke, wie das einstige Wahrzeichen von Mostar nach einem Granatenbeschuss im Fluss versinkt. Die Kroaten hatten 1993 im Krieg gegen die Bosniaken die Brücke zerstört. Ein paar Jahre später wurde sie mit internationaler Hilfe wiederaufgebaut.

Doch die Kriegswunden konnten damit nicht geschlossen werden: Die kroatischen Einwohner leben westlich und die bosniakischen östlich des Flusses. Die Kinder besuchen getrennte Schulen; eine gemeinsame bosnische Geschichte wird im Geschichtsunterricht jeweils anders erzählt. Ein wirklicher Frieden liegt – wenn überhaupt – in weiter Ferne.

Die Landschaft zwischen Mostar und Sarajevo ist so romantisch, wie man sich eine romantische Landschaft nur vorstellen kann

Die Landschaft zwischen Mostar und Sarajevo ist so romantisch, wie man sich eine romantische Landschaft nur vorstellen kann. Zwischen mächtigen Gebirgsketten schlängelt sich die breite, smaragdgrüne Neretva. Stundenlang nur Berge und Täler, der Fluss und kleine idyllische Dörfer inmitten herbstbunter Wälder.

Die Geschichte Bosniens

Ich bin zum ersten Mal in Sarajevo. In meinem Kopf – wie schon in Mostar – all die vergangenen Fernsehbilder, die sich, während ich durch die Straßen der Innenstadt laufe, mit der Jetztzeit überschneiden. In der Baščaršija, der osmanischen Altstadt, an einem orientalischen Brunnen, erinnere ich mich, dass ich diesen Brunnen schon einmal gesehen habe. Damals hatte es geschneit, es war 1984, die Olympischen Winterspiele fanden in Sarajevo statt, und im Fernsehen zeigten sie immer wieder diesen Brunnen mit dem schönen Marktplatz, während Jens Weißflog und Katharina Witt Gold gewannen.

Der Verein

Der Volksbund wurde am 16. Dezember 1919 gegründet und ist ein eingetragener gemeinnütziger Verein mit humanitärem Auftrag. Der Volksbund wurde gegründet, weil die damalige Reichsregierung weder politisch noch wirtschaftlich in der Lage war, sich um die Gräber der Gefallenen im Ausland zu kümmern. Er pflegt die Gräber von über 2,7 Millionen Kriegstoten des Ersten und Zweiten Weltkriegs auf 833 Friedhöfen in 46 Ländern.

Die Mitglieder

Der Volksbund hatte 2017 insgesamt 104.878 zahlende Mitglieder. Er finanziert sich zu zwei Dritteln aus Spenden und zu einem Drittel durch Gelder aus dem Bundeshaushalt.

Datenbank

Der Volksbund hat eine frei zugängliche Onlinedatenbank mit Datensätzen (Stand 2017: über 4,7 Millionen) von gefallenen oder vermissten deutschen Soldaten des Ersten und Zweiten Welt­kriegs angelegt, die unter Volksbund Gräbersuche online ab­gerufen werden können.

Ich laufe weiter und sehe ­Dutzende „Roten Rosen“ im ­Asphalt, die daran erinnern, dass an diesen Stellen Menschen durch ­Granaten getötet wurden. Der Blick geht hoch zu den Hügeln: Von dort aus beschoss die bosnisch-serbische Armee Sarajevo 1.425 Tage lang. Es waren die Jahre von 1992 bis 1995, und ich weiß noch, wie ich Tag für Tag in der „Tagesschau“ all das Leid und all die Leichen in den ­Straßen von Sarajevo sah und wie hilflos ich mich fühlte und wie wütend ich auf die ­internationale Gemeinschaft war, weil sie nichts gegen dieses ­barbarische Töten unternahm.

Am Abend treffen wir Mirsad Tokača in einem Restaurant. Er hat 2004 das Research and Documentation Center in Sarajevo gegründet und in jahrelanger Arbeit, unabhängig von der Regierung, mit seinem Team alle Kriegsverbrechen des Bosnienkrieges dokumentiert. Die Arbeit sei abgeschlossen, sagt er. Durch Granaten, Minen oder Scharfschützen seien allein in Sarajevo rund 50.000 Menschen schwer verletzt und 10.615 getötet worden. Die Zahl der Opfer des Bosnienkrieges belaufe sich auf insgesamt 97.207. „Die Geschichte Bosnien und Herzegowinas“, sagt er zum Abschluss unseres Gespräches, „sollte eine Mahnung an all jene sein, die gerade wieder versuchen, die Na­tio­nen mit ihren jeweiligen Ressentiments gegeneinander auszuspielen.“

Der nächste Tag in Srebrenica. Die Stadt liegt, 130 Kilometer von Sarajevo entfernt, im Osten von Bosnien und Herzegowina, nahe der Grenze zu Serbien. Im Juli 1995 wurden hier unter Führung des bosnisch-serbischen Kommandanten Ratko Mladić über 8.000 Bosniaken ermordet. Es war ein gezielter Völkermord, ein Genozid an der muslimischen Bevölkerung.

Ein Meer weißer Grabstein

Ich taumle durch ein Meer weißer Grabstelen: 8.372 Namen, 8.372 Opfer des Genozids, in Stein gemeißelt. Gleich gegenüber dem Friedhof liegt das Gelände der stillgelegten Autobatteriefabrik, in der, trotz der Anwesenheit von UN-Blauhelmsoldaten, die Frauen vergewaltigt, die Männer gefoltert und später in den bewaldeten Hügeln über der Fabrik getötet wurden.

Eine Frau, die damals, als Kind, hier gewesen ist, führt uns durch die Fabrikhallen, die jetzt eine Gedenkstätte sind. Sie berichtet von grauenerregenden Hilferufen, von Schreien in der Nacht, vom Abschied des Vaters, der ein paar Stunden später im Wald hingerichtet wurde. Sie weint. Ihr Schmerz und dieser Ort der Unmenschlichkeit sind nahezu unerträglich. Auf der anschließenden Fahrt nach Belgrad herrscht Stille.

Serbiens Hauptstadt ist die letzte Station auf dieser einwöchigen Reise durch das ehemalige Jugoslawien mit dem Volksbund. Belgrad hat 1,7 Millionen Einwohner, ist eine moderne Metropole, wurde im Ersten und im Zweiten Weltkrieg von den Deutschen besetzt und 1999 wegen des Kosovokrieges von der Nato bombardiert.

Wir besichtigen das Konzentra­tions­lager Staro Sajmište, besuchen das Mausoleum Titos, sind zu Gast bei Borka Pavićević, einer Friedensaktivistin im Zentrum für Kulturelle Dekontamination, nehmen an einer Veranstaltung der deutschen Botschaft teil, auf der – 100 Jahre nach dem Ende des Ersten Weltkrieges – zwei Historiker über die unterschiedlichen Erinnerungskulturen der Na­tionen debattieren, und besichtigen schließlich noch eine deutsche Kriegsgräberstätte im Südwesten Belgrads, im Košutnjak -Park.

Der Historiker Branimir Gajić führt uns durch den 1915 errichteten „Deutschen Heldenfriedhof“. Generalfeldmarschall August von Mackensen hatte hier eine entscheidende Schlacht gegen die Serben gewonnen. Der Name Mackensen ist in Serbien berühmt. Der Generalfeldmarschall war seinerzeit so tief von der Tapferkeit der serbischen Soldaten beeindruckt, dass er für sie auf dem Deutschen Heldenfriedhof ein eigenes Denkmal errichten ließ. Es trägt in deutscher und serbischer Sprache die Inschrift: „Hier ruhen serbische Helden“. Diese Geste der Ehrerbietung hat ihm einen Platz im kulturellen Gedächtnis der Serben beschert. Der Friedhof gleicht einer Ruinen­landschaft. Der Volksbund möchte – sobald das Kriegsgräberabkommen mit Serbien abgeschlossen ist – den Friedhof als Gedenkort wieder neu gestalten.

Es ist ein sonniger Okto­bertag im Košutnjak-Park, das Laub raschelt unter den Füßen, die ­Kinder von der Grundschule, die heute hier steht, spielen im Pausenhof unbeschwert über Gebeinen deutscher Soldaten, weißgraue Spinnfäden segeln durch die Luft, ein älterer Herr liest in aller Ruhe seine Tageszeitung. Alles ist so schön friedlich: Niemand schießt, und niemand braucht Angst zu haben.

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