Die Wahrheit: Der Weißenkuss

Protest geschieht sofort und reflexartig, geht es bei den schönen Künsten um die Auseinandersetzung mit Rassismus.

Soll man ein Bühnenstück das „Die Neger“ heißt, in „Die Weißen“ umbenennen dürfen? Bild: Bild: AP

Vor ein paar Tagen war in einem Interview mit dem Theaterregisseur Johan Simons unter anderem zu lesen, er wollte für seine Inszenierung das 56 Jahre alte Stück „Die Neger“ von Jean Genet in „Die Weißen“ umbenennen. Weil es, so sagte Simons, „von einem weißen Autor für ein weißes Publikum geschrieben wurde, weil es um die rassistischen Klischees geht, die Weiße entwickelt haben, und weil ich das Stück bis zum Ende zeigen will“. Es hatte schon im Vorfeld Proteste gegeben, und Simons war sicher, seine Bühne werde in jedem Fall gestürmt werden. Peter Stein, dessen Übersetzung von 1983 der Inszenierung zugrunde liegt, untersagte die Titeländerung. Eine Vorgabe des Originals, die Simons Inszenierung nicht befolgt, ist Genets Verfügung, alle Rollen in „Die Neger“ mit schwarzen Schauspielern zu besetzen. So weit die Gemengelage.

Geht es in Theater, bildender Kunst oder Literatur um die Auseinandersetzung mit Rassismus, ist Protest vorprogrammiert. Vor Jahren gab es im New Yorker Stadtteil Brooklyn Aufruhr um ein Kinderbuch. Es trug den Titel „Nappy Hair“, was so viel heißt wie „Krauses Haar“ und handelte von einem schwarzen Mädchen mit besonders widerspenstigem Haar. Die Autorin war schwarz, die Lehrerin, die es einer Klasse aus überwiegend schwarzen und hispanischen Kindern vorlas, weiß. Die Kinder liebten das Buch. Dann gelangte die Kunde von „Nappy Hair“ in die Nachbarschaft und die spielte verrückt. Die meisten Protestler hatten den Stein des Anstoßes nie gelesen, aber der Lehrerin wurde Rassismus vorgeworfen. Die Kinder ihrer Klasse und deren Eltern flehten sie an zu bleiben, doch sie verließ die Schule, weil sie sich dort nicht mehr sicher fühlte.

Um diesen Irrsinn nachvollziehen zu können, muss man eine Ahnung davon haben, wie tief die Kränkung bei vielen schwarzen Frauen sitzt, einem tradierten weiblichen Schönheitsideal – glänzendes, glattes Haar – nicht entsprechen zu können. Historisch galt glattes Haar als „gut“, krauses als „schlecht“.

2012 bei der Fußball-EM fegte der italienische Nationalspieler Mario Barwuah Balotelli wie eine Urgewalt über den Platz. Seine Tore brachten Italien ins Halbfinale, und nach jahrelangen rassistischen Schmähungen durch seine Landsleute riss er sich im Augenblick des Triumphs das Trikot vom Leib, ballte die Fäuste und zeigte in einer Mischung aus Stolz und Drohgebärde seinen tiefschwarzen, kraftstrotzenden Oberkörper. Bei einem Public Viewing in Deutschland waren während seiner Spiele immer wieder Ausrufe wie „Achtung! Jetzt kommt der Neger!“ zu hören, meist von Zuschauern aus dem Umfeld der Achtundsechziger. Sie waren witzig gemeint und sollten wohl Bewunderung ausdrücken. Doch anscheinend lag für die Angehörigen einer Generation, die in einer teils offen rassistischen Gesellschaft aufgewachsen war und später für gesellschaftlichen Fortschritt gekämpft hatte, in Balotellis wütender Entschlossenheit etwas Verunsicherndes. „Der Neger“ wurde benutzt, um mit Ironisierung die vermeintlich erfolgreiche Überwindung von Rassismus zu demonstrieren. Die jüngeren Zuschauer reagierten irritiert. Sie waren im Umgang mit verschiedenen Ethnien längst unverkrampfter, was sich auch an den zahlreichen Postings im Internet ablesen ließ, auf denen der starke Balotelli vor wechselnden Hintergründen Schlecker rettete, Hecken schnitt oder Ballett tanzte.

Für Theater gilt die Freiheit der Kunst

Kann man sich in all diesen unterschiedlichen, manchmal undeutlichen Gefühlslagen und verschiedenen Generationserfahrungen überhaupt zurechtfinden? Es hat Jahrzehnte gedauert, bis in den USA „african-american“, „black“, „white“, „caucasian“, „asian“ und „hispanic“ zum sprachlichen Standard wurde. Dem voraus ging die oft lautstarke Auseinandersetzung zwischen den Weißen, die von jeher die Deutungshoheit über die Sprache besaßen, und den Angehörigen anderer Ethnien, die sie für sich beanspruchten. Gesellschaften verändern sich permanent – es sei denn, man lebt in Nordkorea – und die Basis des Zusammenlebens muss ständig neu ausgehandelt werden.

Theater hat unter anderem die Aufgabe, den Zuschauer, auch mit Mitteln der Provokation, aus seinen gewohnten Perspektiven zu locken. Das wird verhindert, wenn ohne Ansehen einer Inszenierung mit reflexhaftem Protest reagiert wird. Ein von vornherein provokantes Bühnenstück zum Thema Rassismus wie „Die Neger“, das in einem anderem historischen Kontext geschrieben wurde, neu zu interpretieren, ist eine Herausforderung. Die Verwendung seines nach heutigem Standard verletzenden Originaltitels steht dabei nicht auf gleicher Ebene mit der selbstgefälligen Borniertheit eines Onlineforum-Teilnehmers, der das lateinische „niger“ bemüht, um seinem Beharren auf die Verwendung des Wortes „Neger“ Legitimation zu verleihen.

Erst wenn die Grenze zur Hetze überschritten ist, greifen Verbote. Die Freiheit der Rede schützt auch jene, die andere verletzen, und für das Theater gilt die Freiheit der Kunst. „Kunst heißt nicht, dass man die ganze Zeit alle Menschen streichelt“, sagte Johan Simons denn auch kürzlich in einem Interview. Je sicherer wir uns in einem Regelwerk auf der Basis gegenseitigen Respekts bewegen, desto besser kann eine Gesellschaft mit diesen sie herausfordernden Freiheiten umgehen.

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