Die Wahrheit: Der Kotzbrocken und der Rebell

Mick Jagger kann einfach keine Ruhe geben. Jetzt hat der ebenso steinalte wie steinreiche Rolling Stone auch noch ein Lied über den Brexit geschrieben.

Ich erinnere mich noch genau, wie mein Grundschulfreund Sebastian Anfang der sechziger Jahre von einer neuen Band erzählte, deren Mitglieder Lippenstift trugen und in Schlafanzügen auftraten. Sebastian hatte eine ältere Schwester und war deshalb besser als ich über neue Musiktrends informiert. Es ging natürlich um die Rolling Stones, und wir waren von ihrem rebellischen Auftreten fasziniert.

Vom Rebellentum hat sich die Band vor langer Zeit stillschweigend verabschiedet. Sänger Mick Jagger ist von der Queen zum Sir befördert worden. Dennoch kann er nicht in Würde altern. Nachdem Premierministerin Theresa May im März den offiziellen Antrag auf den Austritt aus der Europäischen Union in Brüssel eingereicht hatte, schrieb Jagger ein Lied.

„Ich hatte ein Mädchen in Lissabon, ich hatte ein Mädchen in Rom, nun muss ich zu Hause bleiben“, heißt es in „England Lost“. Okay, im Englischen reimt sich Rome auf home, aber besser wird das Lied dadurch nicht. Außerdem plant weder die britische Regierung noch die Europäische Union, Engländern nach dem Brexit die Ausreise zu verwehren. Bei Jagger könnten sie aber ruhig eine Ausnahme machen.

Wenn Musiker sich mit Politik beschäftigen, kommt fast immer Murks dabei heraus. Jagger war lautstarker Fan von Margaret Thatcher und wurde öfter von ihr zu Privataudienzen in die Downing Street eingeladen. Der Eiserne Kotzbrocken war, wenn es darauf ankam, proeuropäisch. Ist Jagger deshalb wegen des Brexit besorgt, wie er behauptet? Oder ist es pure Heuchelei?

Kurz vor dem Referendum im vorigen Jahr hatte er in einem Interview mit Rupert Murdochs „Sky News“ erklärt, dass der Brexit langfristig vorteilhaft für das Vereinigte Königreich sein werde. Hat ihn der Zeitgeist, den er laut Musikzeitschriften mit dem Lied eingefangen habe, zum Meinungsumschwung bewogen?

„England Lost“ reflektiere die Verletzlichkeit von England: „Ich wollte England finden, aber es war nicht da. Ich glaube, ich habe es hinten in meinem Sessel verloren. Ich will nicht mehr über Immigration reden. Du kannst nicht rein, und du kannst nicht raus.“ In dem Song stecke viel Humor, sagt Jagger. Tatsächlich? Es muss sich um englischen Humor handeln.

Seine Sorgenfalten wegen England sind rührend. 1971 war ihm das Land schnuppe. Er zog nach Frankreich, um Steuern zu sparen, die ihm die damalige Labour-Regierung abknöpfen wollte. Die Stones verlagerten ihren Hauptsitz nach Amsterdam, weil die niederländischen Steuern auf Tantiemen viel niedriger sind als in der englischen Heimat. So musste die Band auf ein Einkommen von 450 Millionen Dollar lediglich 1,6 Prozent Steuern berappen. Nur Apple zahlt noch weniger Steuern.

Die Plattenfirma wollte das Lied eigentlich erst nächstes Jahr veröffentlichen, aber Jagger hatte es eilig. „Ich wollte nicht warten, bis der Song seine Wirkung verloren hat und nichts mehr bedeutet.“ Sorry, Sir Mick, aber das tut er jetzt schon nicht.

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Geboren 1954 in Berlin. 1976 bis 1977 Aufenthalt in Belfast als Deutschlehrer. 1984 nach 22 Semestern Studium an der Freien Universität Berlin Diplom als Wirtschaftspädagoge ohne Aussicht auf einen Job. Deshalb 1985 Umzug nach Dublin und erste Versuche als Irland-Korrespondent für die taz, zwei Jahre später auch für Großbritannien zuständig. Und dabei ist es bisher geblieben. Verfasser unzähliger Bücher und Reiseführer über Irland, England und Schottland. U.a.: „Irland. Tückische Insel“, „In Schlucken zwei Spechte“ (mit Harry Rowohlt), „Nichts gegen Iren“, „Der gläserne Trinker“, "Türzwerge schlägt man nicht", "Zocken mit Jesus" (alle Edition Tiamat), „Dublin Blues“ (Rotbuch), "Mein Irland" (Mare) etc. www.sotscheck.net

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kari

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