Die Wahrheit: Neujahrsmoritat

Eigentlich ist Donnerstag der Gedichtetag: Ausnahmsweise darf sich die Leserschaft zu Silvester an einem Poem über eine letzte Runde erfreuen.

Illustration: Kittihawk

Erst neulich saßen nah bei Kassel

Ein Nacktmull, eine Kellerassel,

Ein Weberknecht und dessen Schwester

In einer Bar. Es war Silvester.

Man aß veganes Pilz-Risotto

Und trank recht guten Beaujolais;

Der Weberknecht, er hieß Karl-Otto,

Beschwor die Not der SPD.

Man gruselte sich in der Runde

Vorm neuen Mann im Weißen Haus,

Die Assel sprach darauf profunde

Befunde über China aus.

Dann lachten alle laut und gellend;

Die Schwester hatte talentiert

Und täuschend ähnlich, Sekt bestellend,

Angela Merkel imitiert.

Der Nacktmull dachte still bei sich:

Das letzte Jahr war fürchterlich.

Beruflich lief es gar nicht rund,

Die Miete steigt schon wieder und

Marie-Christin hat mich verlassen,

Sie lebt seitdem mit diesem Klaus;

Der hat zwar nicht mehr alle Tassen

Im Schrank, doch sieht er sehr gut aus.

Im Juni werd ich einundsechzig;

Wo bleibt bloß der Johannistrieb?

Ich mache kaum noch Sport, das rächt sich;

Das Bier ist alles, was mir blieb.

Da riefen alle: „Frohes Neues!

Wie schön, dass ihr gekommen seid!“

Der Nacktmull dachte: Ich bereu es –

Und das schon seit geraumer Zeit.

Ich sitze nackt, mit kalten Pfoten,

Am Tisch mit diesen Vollidioten

Und trinke – Fluch des Biedersinnes! –

Seit Stunden warmen Sekt statt Guinness.

Von Christian Maintz

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kari

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