Die Wahrheit: König der Arktis

Die Schneeballschlacht – ist das nicht die letzte Domäne des großen weißen Affen namens Mann? Nicht, wenn man ein vaterloser Gesell ist …

Ich bin als vaterloser Geselle aufgewachsen, was viele Vorteile hat. Zum Beispiel musste ich mir während meiner Kindheit nicht den Kopf darüber zermartern, wie ich meinen Erzeuger heimlich abmurksen und seinen Platz im elterlichen Ehebett einnehmen könnte. Daneben wird es von Frauen sehr geschätzt, dass mein Unterricht im Fach „Männliche Verhaltensweisen“ mangels Lehrpersonal komplett ausgefallen ist, sodass ich ihnen weder unablässig in den Ausschnitt starre noch beim Essen laut rülpse. Mir selber hingegen gefällt es, dass mir niemand beigebogen hat, wie wichtig es ist, sich Tag für Tag die Karriereleiter weiter hinaufzukämpfen, weshalb ich eine ausgeprägte Neigung besitze, das Leben zu genießen und Autoritäten notorisch einen Vogel zu zeigen.

Es gibt allerdings auch einen eklatanten Nachteil in der vaterfreien Biografie. Ich kann nämlich nicht werfen. Wobei: Werfen geht schon, nur beim Treffen hapert’s. Das zeigte sich schon in meinen frühen Jahren, sobald Frau Holle den Hinterhof mit einer dicken Schneeschicht zugedeckt hatte und die Jungs der umliegenden Blocks kreischend ins Freie rannten. Auch ich war ganz gaga vor Begeisterung, formte eine Batterie Schneebälle, visierte diabolisch kichernd ein Opfer an und vernahm befriedigt, wie man mit den Zähnen klapperte und um Gnade flehte. Bedauerlicherweise nur gab nicht der Junge, den ich fixierte, die Laute des Entsetzens von sich. Stattdessen schrien die am lautesten, die am weitesten von ihm entfernt waren: Denn wenn ich einen Schneeball abfeuerte, war jeder in Gefahr, nur nicht die Zielperson.

Auch später erhöhte sich meine Trefferquote nicht. Wann immer es schneite und ich mich vom Übermut hinreißen ließ, warf ich versehentlich Scheiben ein oder schoss einem Polizisten die Mütze vom Kopf, der locker zehn Meter neben meinem eigentlichen Gegner stand.

In einer weit zurückliegenden Dezembernacht aber kam alles anders. „Mach dein Testament!“, raunte ich Holger zu, als wir das Café Gum verließen und es draußen in dicken Flocken schneite. Bis heute weiß ich nicht, woran es lag: wahrscheinlich daran, dass ich beim Ausholen auf einer gefrorenen Pfütze ausrutschte. Jedenfalls traf ich ihn. Voll. Und Sekunden später hockte ich auf ihm, schaufelte ihm Schnee ins Gesicht und trommelte mir auf die Brust wie White King Kong, König der Arktis.

Holger schwor Rache. „Das wirst du büßen!“, raunte er mir zu, und irgendwann im späten Februar war es dann so weit. Wieder trat ich aus dem Café Gum und wieder tanzten draußen die Flocken. Holger wartete hinter einem Stromkasten, auf dem er mehrere Schneeballpyramiden aufgebaut hatte. „Jetzt wird abgerechnet, Buddy!“, rief er und startete die Kanonade. Doch seine Geschosse sausten samt und sonders meterweit an mir vorbei, und da fiel mir auf, dass auch er sich noch nie durch lautes Rülpsen beim Essen oder einen ausgeprägten Ehrgeiz hervorgetan hatte.

Die Wahrheit auf taz.de

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Joachim Schulz wurde 1963 an der Nordseeküste geboren und in Regen, Wind und Nebel großgezogen. Er lebt mittlerweile in einer kleinen Welt in der hessischen Provinz, wo unablässig die großen Fragen des Lebens erörtert werden, und ist seit 1996 im Einsatz für Die Wahrheit.

ist die einzige Satire- und Humorseite einer Tageszeitung weltweit. Sie hat den ©Tom. Und drei Grundsätze.

kari

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.