Die Wahrheit: Commandante im Abendlicht

Unbedarften Nachgeborenen können die Veteranen der bewegten Achtziger so ziemlich alles erzählen – bloß nicht die Wahrheit.

Commandante Winnie schildert seinen Jüngern die Höhepunkte des Häuserkampfs in der Hafenstraße“, sagte Raimund süffisant, als wir das Café Gum betraten. Seit einigen Wochen saß dort fast täglich ein Typ, der sich Winnie nannte und einer andächtigen Schar junger Menschen von seinen Revoluzzerjahren in den Achtzigern erzählte.

„Es sind wieder mehr Zuhörer geworden“, sagte ich. „Was ja nicht jeder schlecht findet …“, erwiderte Raimund und deutete auf Petris, den Gum-Wirt, der ein Tablett voller Flaschen mit einer veganen Brause vorbeitrug. Petris ergänzte die Karte alle paar Tage um ein neues antiimperialistisches Getränk und Raimund meinte: „Sobald er kein Bier mehr anbietet, weil er den Platz für Grünkohl-Smoothies braucht, die von Guerilla-Gärtnern in den Favelas von Rio hergestellt werden, gebe ich die Dauerkarte für meinen Platz an dieser Theke zurück und suche mir einen vakanten Barhocker in der Bar Centrale.“

Unterdessen war Rudi, der Blödmann, hereingekommen. Anders als sonst rückte er uns nicht sofort auf die Pelle, sondern schlenderte zu Winnie hinüber, wo er vom Commandante begrüßt und von den Zuhörern mit ehrfürchtigem Raunen empfangen wurde.

„Ich fass es nicht“, sagte Raimund. Rudi hatte sich auf einen Stuhl gesetzt, wo ihn die Abendsonne besonders hell anstrahlte, und während Winnie zweifellos über ihn sprach, nahm das Raunen zu. „Unglaublich“, murmelte Raimund – um dann ein bisschen näher ranzuschleichen und Winnie wie absichtslos zu belauschen.

„Er erzählt, wie sich Rudi im Herbst 85 ganz alleine mit blankem Oberkörper einem Wasserwerfer entgegengestellt hätte“, berichtete er, als er zu mir zurückgekehrt war. Wir mussten lachen, denn Rudi war damals aus Angst um seine Lehrerlaufbahn nicht mal zu Friedensdemos mitgefahren. „Egal“, sagte Raimund, „ich werde schon rauskriegen, was das zu bedeuten hat.“ Und als Rudi kurz darauf zur Toilette ging, ging er hinterher.

Er sah zufrieden aus, als er wieder zu mir an die Theke kam. „Rudi hat zufällig erfahren, dass Winnie in seinem ganzen Leben nicht in der Hafenstraße oder in Gorleben gewesen ist“, sagte er: „In den Achtzigern hat er in Bielefeld eine Banklehre gemacht und eine Popperfrisur getragen.“ – „Das heißt, er erpresst ihn? Die Wasserwerfer-Story ist der Preis dafür, dass er den jungen Leuten nicht die Wahrheit sagt?! Rudi ist wirklich das mieseste kleine Arschloch …“

Raimund presste einen Zeigefinger auf seine Lippen und deutete hinüber zu Winnie, dem Rudi gerade etwas zuflüsterte. Dann sagte der Commandante: „Aber nun, liebe Freunde, möchte ich euch zwei weitere Helden vorstellen, die damals …“, und Raimund zwinkerte mir zu und zog mich in die Abendsonne hinüber.

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Joachim Schulz wurde 1963 an der Nordseeküste geboren und in Regen, Wind und Nebel großgezogen. Er lebt mittlerweile in einer kleinen Welt in der hessischen Provinz, wo unablässig die großen Fragen des Lebens erörtert werden, und ist seit 1996 im Einsatz für Die Wahrheit.

ist die einzige Satire- und Humorseite einer Tageszeitung weltweit. Sie hat den ©Tom. Und drei Grundsätze.

kari

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