Digitales Wirtschaftswachstum: Achilles und die digitale Schildkröte

Dass der digitale Wandel das Dogma immerwährenden Wirtschaftswachstums aufrechterhalten kann, ist Illusion. Und wieder einmal wussten’s schon die alten Griechen.

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von PETER REICHL

Digitale Ökonomie beruht, wie uns Nicholas Negroponte lehrt, auf der Transformation von Bits, ähnlich wie industrielle Ökonomie auf der von Atomen. Beides, analoges Produkt wie digitaler Service, wird also irgendwo lokal erzeugt, sieht sich aber am Ende der jeweiligen Wertschöpfungskette einem globalen Markt gegenüber.

In dieser Spannung liegt die Illusion begründet, das Dogma eines permanenten Wirtschaftswachstums sei durch den Übergang ins Digitale aufrechtzuerhalten. Denn während immer deutlicher wird, dass unser momentaner Lebensstil als (nach wie vor) analoge Wesen in naher Zukunft an vielfache Grenzen stoßen wird, scheinen diese in der digitalen Welt auf wundersamste Weise aufgehoben.

Das ist jedoch eine Fiktion, schon weil die Annahme, Informationsverarbeitung sei im Prinzip umsonst zu haben, natürlich falsch ist: Auch die kleinste Transformation des kleinsten Bits benötigt Energie, und digitales Kleinvieh macht daher leider analogen Mist – dass Bitcoin, wie mehrfach kolportiert, auf Island inzwischen mehr Energie verbraucht als alle dortigen Haushalte zusammen, legt davon beredtes Zeugnis ab.

Der Trugschluss der Schildkröte

Man könnte natürlich argumentieren, digitale Wertschöpfung sei dafür ja um so vieles effizienter und ressourcenschonender als herkömmliche. So einfach ist die Sache aber nicht, und mit ein Grund liegt in jenem bekannten Paradoxon, das der griechische Denker Zenon von Elea schon vor zweieinhalbtausend Jahren ersann: der Geschichte von Achilles und der Schildkröte. Denn bei genauerer Betrachtung stellt sich dieser berühmt gewordene Wettlauf in erster Linie als Aufeinanderprallen derselben Perspektiven dar: die Schildkröte in ihrer kleinen Welt, wie sie, Schritt für Schritt, unwiderlegbar argumentiert, Achill könne ihren Vorsprung ja gar nicht einholen, während der forsche Recke sie schon längst entschlossenen Schrittes Lügen straft. Was im Kleinen so logisch scheint, lässt sich eben nicht so mir nichts, dir nichts auf’s große Ganze übertragen, und vor allem in der gigantischen Potenzierung, von der wir hier reden, kann so etwas schnell in die globale Hose gehen.

Denn was ist die Essenz des digitalen Produkts? Es ist vor allem und in vielerlei Hinsicht klein und schnell, miniaturisiert und hochperformant – und zwar beides zugleich. Letztlich also ruft uns der Schildkröte trauriges Schicksal eine einfache mathematische Wahrheit wieder ins Bewusstsein: Exponenzielles Wachstum bleibt exponenziell, egal welche Größenordnung oder Skalierung man zugrunde legt.

Dem Zinseszins ist’s herzlich gleich, ob man ihn in Tagen oder Jahren, in Cent oder Mega-Euro misst, denn abgerechnet wird am Schluss. Und von daher bietet der Schritt zum Bit eben doch keinen Ausweg: Wer glaubt, alles viel kleiner und schneller machen und dann hoffen zu können, Achilles’ Version 4.0 gewinne dadurch wieder Platz genug und alle unliebsame Begrenzung sei weit weg, erliegt derselben jahrtausendealten Illusion.

Fatale Nebenwirkungen nützlicher Ideen

Das gleiche Spannungsfeld zwischen potenzieller Nützlichkeit im Kleinen und potenzieller Toxizität im Großen findet sich übrigens auch auf der Ebene der digitalen Innovation selbst: Wer wollte etwa die Zweckmäßigkeit einer App bezweifeln, die dazu gedacht war, in Kaliforniens taxilosen Weiten spontane Mitfahrgelegenheiten zu organisieren – bevor sie nach kurzer Zeit globaler Expansion weltweit Taxifahrer in den Ruin zu treiben begann? Und hatte nicht auch Mark Z. nur die lokale Vernetzung seiner Harvard-Jungs im Sinne, bevor er beschloss, damit gleich die ganze Welt zu einem besseren Ort zu machen – mit allseits bekannten Folgen?

Vollends ungemütlich wird es für unsere digitale Schildkröte aber, wenn beide Ebenen unkontrolliert aufeinandertreffen. Exemplarisch dafür wollen wir uns nochmal Bitcoin, und hier insbesondere dem euphemistisch als »Mining« bezeichneten Vorgang zuwenden, von dem allenthalben zu lesen ist, er sei mit der offenbar gewaltigen Anstrengung einer Lösung schwieriger kryptografischer Probleme verbunden. Die Wahrheit dahinter ist erschreckend banal: Es geht (im Kleinen) um nichts anderes als simples Würfeln von Zufallszahlen, ohne jeden Sinn und Zweck außer dem, der großen weiten Welt den hierfür betriebenen Aufwand zu demonstrieren.

Bitcoin spielt Lotto zum global nachweisbaren Zeitvertreib; oder noch pointierter: Diese »Technologie« gleicht einem Ferrari, der im Leerlauf mit Vollgas vor einer roten Ampel steht, weil er erst weiterfahren darf, wenn der Tank leer ist. Würde man doch wenigstens nach riesigen Primzahlen oder grünen Männchen fahnden oder die Flugkurven potenzieller Regentropfen berechnen! So aber ist gerade dieser Algorithmus an Absurdität kaum mehr zu überbieten, und es ist schon allein deshalb höchste Zeit, mit derlei Unfug aufzuräumen.

Uber, Facebook, Bitcoin: drei Beispiele nur, doch bezeichnend für das Dilemma, in dem wir uns befinden. Und die viel grundlegendere Frage, für wen wir diese digitale Welt eigentlich bauen, haben wir dabei noch nicht einmal berührt. Aber das ist ein anderes Kapitel.

PETER REICHL ist Professor für Informatik an der Universität Wien.

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