Disco mit Handicap: „Einfach mal ganz normal sein“

Wer muss laufen können, um tanzen zu gehen? In der Kieler Disko „Gary’s“ feiern einmal im Monat alte und junge Menschen mit Behinderung.

Disko für Menschen mit Behinderung

Ganz normal abtanzen: Im „Garys! in Kiel feiern Menschen mit Behinderung Foto: Thomas Eisenkrätzer

KIEL taz | Die ersten Gäste sind schon da, bevor die Türen öffnen. Stehen am Rand der Kieler Vorstadtstraße, plaudern, gucken, wer noch so kommt. Sie stützen sich auf Rollatoren, fahren mit Rollstühlen dicht an den Eingang heran. Sie wollen Musik, sie wollen tanzen – Saturday-Night-Fever am frühen Montagabend.

Drinnen ist es noch ruhig. Am Tresen werden Gläser und Getränke eingeräumt, Arbeitslicht erhellt den Raum, in dem schwach der Duft längst verqualmter Zigaretten und vor Jahren ausgeschenkter Biere nistet. An den Seiten stehen Plüschsofas vor niedrigen Tischchen, dicht um die Tanzfläche warten Barhocker auf die Gäste, die sich zwischen zwei Liedern ausruhen wollen.

Gerd Mangels, genannt Gary, steht am Mischpult und stöpselt sein Tablet mit der Musik des Abends an.“Im Gary’s ist Ü30 zuhause“, lautet der Werbespruch des Hauses, „und zwar immer!“ Bloß eben nicht heute.

Angelina ist 22 und kommt her, „seit ich klein bin“: Zwölf, dreizehn muss sie bei ihren ersten Besuchen gewesen. Angelina wohnt in der Nähe, arbeitet in der Werkstatt „Drachensee“, einer Werk- und Wohneinrichtung für Menschen mit Behinderung, im Bereich Kunsthandwerk: „Filzen und solche Sachen“, sagt Angelina. Ins Gary’s kommt sie gern, wegen der Leute, aber auch wegen der Musik: „Schlager bis Pop, ich mag das alles.“

Irmgards schmaler Körper ruht in einem Rollstuhl, neben dem Daniel, ihr Betreuer, auf dem Boden kniet – Irmgard ist so klein und vogelzart, dass es ihr schwer fällt, den Kopf zu heben. Ihr rechtes Brillenglas ist mattiert, das Auge dahinter seit ihrer Jugend blind: „Das war mein Vater“, sagt Irmgard.

Auch auf dem zweiten Auge sieht sie seit einiger Zeit nichts mehr, seit einer Operation. „Aber ich mache das Beste draus“, sagt sie und lächelt. Anders als Angelina knackt Irmgard die Ü-30-Marke locker: Sie ist 78. Neben dieser Disko besucht sie auch noch einen Tanzabend in Schleswig, wo sie seit Jahrzehnten in Kliniken und Wohngruppen lebt. „Ich treffe hier meine Freundinnen.“

Als sich endlich die Tür öffnet, strömen die Wartenden ins Gary’s. Der Eintritt ist frei, eigentlich darf jeder rein – ein bisschen achtet das Personal aber doch darauf. Ursprünglich hatte Mangels einen Ort schaffen wollen, an dem Menschen mit Behinderungen auf Menschen ohne Behinderungen treffen, miteinander feiern, tanzen, sich kennenlernen können. „Berührungsängste abbauen“, sagt der Endsechziger mit den schulterlangen Haaren. Die Idee kam ihm 1979, als er bei einer Party im „Drachensee“ auflegte.

Seine damalige Disko in Kiel öffnete er einmal pro Monat für Rollstuhlfahrer, spastisch Gelähmte oder auch psychisch Kranke. Anfangs kamen auch Nicht-Behinderte – aber „die falschen Leute“, sagt Mangels: Die hatten ordentlich vorgeglüht und machten Randale. Jetzt sind die Menschen mit Behinderung einmal im Monat unter sich und die Stimmung ist bombig.

Manuel etwa hat sich schick gemacht: Weste und Krawatte zum eleganten Hemd, die Haare in Form. Klar suche er eine Freundin, sagt der 22-Jährige über das Dröhnen der Musik, „aber das ist nicht so einfach.“ Manuel sei anspruchsvoll, ergänzt Jojo, sein Betreuer. Gleich darauf steht Manuel, der mit Trisomie 21 geboren wurde, wieder auf der Tanzfläche.

Mit gut 200 Menschen, die sich auf der Tanzfläche drängen, am Tresen für ein Getränk anstehen oder auf den Sofas sitzen, ist die Disko angenehm voll. An der Decke bilden Punkt-Lämpchen einen Sternenhimmel, Scheinwerfer malen farbige Lichter auf die Gesichter und lassen auch ungelenkere Bewegungen weicher aussehen.

Wie in vermutlich allen Diskos rund um den Globus tanzen mehr Frauen als Männer und wenn Mangels die „Mädels“ auffordert, die Hüften zu schwenken, tun sie es mit Freude: die Mittzwanzigerinnen Sonja und Annika ebenso wie Anke, die heute ihren 52. Geburtstag feiert und ihre Freundin Christina im Foxtrott-Takt über die Tanzfläche schiebt.

„Die Stimmung, die ist immer sofort da“, sagt Mangels. Das sei einer der Gründe, warum er seit Jahrzehnten weitermacht. Großartig Geld verdienen kann er nicht an diesen Veranstaltungen: Die meisten Gäste arbeiten in betreuten Werkstätten oder sind in Frührente, müssen ihre paar Euro Taschengeld sorgsam einsetzen. So werden an diesen Abenden nur alkoholfreie Getränke und Bier zum ermäßigten Preis ausgeschenkt.

Als es los ging mit der besonderen Disko, war von Integration oder gar Inklusion noch nicht die Rede. Inzwischen hat Mangels Auszeichnungen und Lob für seinen Einsatz bekommen. Ihn fasziniere aber etwas anderes, sagt er: „Die Dankbarkeit in den Gesichtern, die Begeisterung.“

„Die Musik hier ist einfach gut“, sagt Stefan, der mit seiner Frau Uscha da ist. Tanzen kann sie nicht so viel, sie geht auf einen Rollatur gestützt. Auch Stefan ist nicht gesund, bezieht Frührente. Aber wenn Gary auflegt, sind beide da, schon aus familiären Gründen: „Der Gary ist mein Onkel“, sagt Stefan ein wenig stolz.

„Dsching-dsching-dschingis Kahn!“ schallt es jetzt durch den Raum: Garys musikalische Heimat sind die 70er und 80er Jahre, aber „hier musst du alles spielen, von AC/DC bis zu ganz neuen Sachen“, weiß der langjährige Disko-Betreiber. „Die Leute kennen sich aus.“ Die Bandbreite ist groß: Anke singt bei Schlagern mit, neben ihr wippt ein junger Mann mit Rammstein-Shirt.

Der Abend sei wichtig, weil „die Leute einfach mal ganz normal sein können“, sagt Frauke. Die Mitarbeiterin einer Behinderteneinrichtung in Eckernförde kommt regelmäßig mit einer Bewohnergruppe her. Sie selbst tanzt eifrig mit und gibt zu, dass diese Abende zu den Höhepunkten ihres Jobs gehören: „Wir können alle zusammen Spaß haben, ohne dass ich reglementieren muss.“

Und ja: Kontaktbörse ist die Disko auch. Manuel hat seine Traumfrau zwar noch nicht gefunden, auch wenn Sonja ihm immer diese auffällig-unauffälligen Blicke zuwirft. Einzig Angelina muss sich nicht mehr umgucken: „Ich hab’ ja einen Freund.“ Den hat sie allerdings nicht hier im Gary’s getroffen – sondern bei der Arbeit.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.