Doku über Flüchtlingsleben: Unfreiwillig volljährig

Der 16-jährige Mujib flüchtet ohne Eltern aus Afghanistan und strandet in Hamburg. Dort wird er zu einem Erwachsenen erklärt.

Mujib wurde sein Bartwuchs zum Verhängnis. Bild: NDR

HAMBURG taz | Können einem Menschen Bartwuchs und „ausgeprägte Stirnfalten“ zum Verhängnis werden? Ja, wenn man als minderjähriger Flüchtling an den Kinder- und Jugendnotdienst (KJND) in Hamburg gerät.

Mujib, einem Jungen aus Afghanistan, ist dies dort 2014 widerfahren, als er im Alter von 16 Jahren hierher kam. Bei einer zehnminütigen „Inaugenscheinnahme“ stufte ihn das dortige Fachpersonal aufgrund diverser äußerer Merkmale als volljährig ein.

Mujib hatte zwar eine Geburtsurkunde aus Afghanistan dabei und einen Flüchtlingsausweis aus Norwegen, wo er ein Jahr lang gelebt hat, bevor er aus Angst vor Abschiebung fliehen musste – aber die Dokumente berücksichtigten die Mitarbeiter der Erstaufnahmeeinrichtung nicht. Nach dem Motto „In Hamburg sagt man Tschüss“ schickten sie den Teenager, der zu diesem Zeitpunkt bereits eine Odyssee durch elf Länder hinter sich hatte, wieder weg. Er schlief dann erst einmal drei Tage auf der Straße.

Mujib – mit 13 aus Afghanistan geflohen, nachdem die Taliban ihn als Selbstmordattentäter vorgesehen hatten – hat als unbegleiteter minderjähriger Flüchtling eigentlich Anspruch auf Schulbildung und Unterkunft in einer betreuten Wohneinrichtung. Warum die Stadt Hamburg ihm und anderen Leidensgenossen das schwere Leben noch schwerer macht, indem man sie zu Erwachsenen erklärt, darüber gibt die Reportage „Mujib – ohne Eltern auf der Flucht“ Aufschluss, die Pia-Luisa Lenz für die ARD gedreht hat.

Viele Kollegen beim KJND seien „überfordert“, der Andrang auf die vorhandenen Wohnplätze sei zu groß, sagt im Film ein früherer Mitarbeiter, der unerkannt bleiben will. „Wenn es irgend geht“, werde jemand „für volljährig erklärt“. Die Filmemacherin spricht daher von „offenbar systematischen“ Fehlentscheidungen. Ein Behördensprecher sagt zu den Vorwürfen, es gebe nun mal leider „keine hieb- und stichfesten Kriterien“, um festzustellen, ob jemand minderjährig sei.

Die Zahlen, die der für den Kinder- und Jugendnotdienst verantwortliche Landesbetrieb für Erziehung und Bildung veröffentlicht, werfen allerdings kein positives Licht auf die Praxis. Im vergangenen Jahr seien von den 2.011 Flüchtlingen, die in Hamburg eine sogenannte Inobhutnahme anstrebten, nur „31 Prozent tatsächlich als minderjährig anerkannt“ worden, sagt Lenz.

In ihrem Film stellt sie die Arbeit jener Menschen heraus, die Mujib helfen: „Fluchtpunkt“, eine sich durch Spenden und Benefizkonzerte finanzierende Beratungsstelle der evangelischen Kirche im Schanzenviertel, und Dietlind Jochims, eine Pastorin aus Billstedt. Sie lässt Mujib bei sich wohnen. Lenz, die den Jungen ein Jahr lang begleitet hat, beschreibt, wie er sich verändert in dieser Zeit: Zunächst ist er froh, aber nach einigen Wochen wird er apathisch, weil er in ständiger Angst, aufgegriffen zu werden, das Haus kaum verlassen kann.

Erst eine unter Experten umstrittene Röntgenuntersuchung des gerichtsmedizinisches Instituts am UKE ändert Mujibs Leben. Das von den Medizinern ermittelte „Knochenalter“ – ein an Gruseligkeit schwer zu übertreffender Begriff – weicht dann zwar von seinem Geburtsdatum ab, aber daran, dass er minderjährig ist, lassen die Ergebnisse keinen Zweifel. Nach 198 Tagen ist der folgenreiche Fehler der Kinder- und Jugendnotdienstes endlich korrigiert.

Danach geht es für ihn relativ schnell: Er bekommt einen Platz in einer Vorbereitungsklasse für Flüchtlinge an der Gewerbeschule in Hamm, auf den „viele minderjährige Flüchtlinge oft Monate warten“, wie Lenz sagt. Mujib hatte Glück, „weil die Pastorin Dietlind Jochims sich sehr für ihn eingesetzt hat“, sagt Lenz. Seine Klassenlehrerin bescheinigt ihm „viel Potenzial“, auch dank seiner Sprachkenntnisse in Deutsch, Englisch und Norwegisch.

Lenz beschreibt in ihrem Film eindrücklich, wie Hamburger Behördenmitarbeiter einen jungen Flüchtling aus Afghanistan derart in die Verzweiflung treiben, dass er kurzzeitig seinen Lebensmut verliert. Die Autorin fängt diese Phasen ein, rückt ihm aber nicht zu sehr auf den Leib. Die Überemotionalisierung vermeidet sie auch in jenen Passagen, in denen es um den Terror der Taliban geht. Lenz illustriert Mujibs Erzählungen mit zurückhaltend animierten Schwarz-Weiß-Zeichnungen, die gleichwohl bedrückend sind.

„Mujib – ohne Eltern auf der Flucht“ erzählt die Geschichte eines Jungen, der fast verloren gewesen wäre, weil sich der Staat einfach aus der Verantwortung gestohlen hat. Falls sich Mujibs Hoffnungen irgendwann erfüllen sollten, hat er das einer kirchlichen Beratungsstelle und dem privaten Engagement einer Pastorin zu verdanken. Zu den wenigen Dingen, die sich in Mujibs Besitz befinden, gehört ein gerahmtes Porträtfoto von ihr. Es hängt nun an der Wand in dem Zimmer seiner Jugendwohnung.

„Mujib – ohne Eltern auf der Flucht“ in der Reihe „Gott und die Welt“: So, 1. März, 17.30 Uhr, Das Erste
Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.