Dokumentarfilm „Havarie“: „Die Menschen sind immer noch da“

Kaum Bewegung, viel Meer, ein Flüchtlingsboot: Der Berliner Regisseur Philip Scheffner im Interview über seinen Film „Havarie“.

Der Regisseur Philip Scheffner blickt ernst in die Kamera

Wer ist das, der da filmt? Regisseur Philip Scheffner will in seinem Film „Raum zum Nachdenken“ schaffen Foto: Khaled Abdulwahed

taz: Herr Scheffner, ein Tourist filmt von einem Kreuzfahrtschiff aus ein Flüchtlingsboot. Das YouTube-Video wird von Ihnen in „Havarie“ auf 90 Minuten gestreckt. Warum?

Philip Scheffner: Zunächst ging es uns darum, herauszufinden, was wir eigentlich sehen, wenn wir uns diesen Clip angucken. Und zu versuchen, die sehr brutale Blickhierarchie, die es in dem Film auf der Bildebene gibt, für Momente zu ändern, zu irritieren, sodass für einen kurzen Moment eine Begegnung auf Augenhöhe stattfinden kann – ohne dabei zu negieren, dass es diese hierarchische Perspektive auf der politischen Ebene grundsätzlich gibt.

Der YouTube-Clip war der Anlass für Ihre Recherchen.

Uns ging es erst einmal darum, herauszufinden: Wer ist das, der da filmt? Was ist das für ein Ereignis? Daraufhin haben wir den Iren Terry Diamond kontaktiert, der den Clip gefilmt hat, und sind nach Irland gefahren. Wir haben über sein „Gepäck“ gesprochen mit dem er dieses Bild aufgenommen hat. Er ist aufgewachsen in Zeiten des Troubles, des irischen Bürgerkriegs, hat beobachtet, wie sein bester Freund als 13-Jähriger erschossen wurde. Wir haben dann eine weitverzweigte Recherche gemacht. Haben vor Ort mit der spanischen Seenotrettung gesprochen. Wir haben auch recherchiert, wer die Menschen auf dem Boot waren, und herausgefunden, dass sie nach einem Monat in Spanien wieder nach Algerien abgeschoben wurden.

An der Stelle haben wir in diese Richtung nicht weiter recherchiert, weil es war für uns nicht absehbar war, ob wir durch unsere Nachforschungen den Menschen dort Probleme machen. Wir sind dann durch unsere Recherche auf einen Protagonisten gekommen, der die selbe Reise von Algerien nach Spanien schon acht Mal gemacht hat. Zusätzlich haben wir mit mehrere Menschen getroffen und gefilmt, die auf derselben Strecke oft unterwegs sind und theoretisch dem Boot hätten begegnen können.

Ihr Material hatten Sie. Was passierte dann?

Wir hatten vor, einen essayistischen Film zu drehen. Wir wollten die verschiedenen Protagonisten in den unterschiedlichen Ländern auf der Bildebene miteinander in Beziehung setzen. Aber als wir wiederkamen, hatten wir das Gefühl, dass sich die Zeiten geändert haben. 2015 war ja der high peak der sogenannten Flüchtlingskatastrophe, und die Bilder von Booten mit Flüchtlingen waren jeden Abend im Wohnzimmer. Wir fanden unsere Szenen zwar schön, aber wir haben damit keinen neuen Raum zum Nachdenken geöffnet. Wir hatten das Gefühl, dass man sich zu leicht in den individuellen Geschichten verliert.

Das war eine Tendenz, die wir auch in der Medienreaktion auf die vielen Toten im Mittelmeer festgestellt haben. Es wurde versucht, mit Empathie darüber zu berichten und der Anonymität der Zahlen eine persönliche Geschichte entgegenzustellen. Was ich total nachvollziehen kann. Aber in der Ballung zu der Zeit hatte das einen ganz merkwürdigen Effekt. Ich konnte mich schneller distanzieren. Denn das Identifizieren wurde mir so einfach gemacht, dass ich gar nicht mehr über meine eigene Person dabei nachdenken musste. Dass ich gerade am eigenen Frühstückstisch mit der Zeitung in Berlin sitze. Dass ich auch Teil des Problems bin und nicht einfach nur von draußen darauf gucke, wurde nicht hinterfragt.

Also weg mit dem Filmmaterial?

Wir benutzen unser ganzes Material, aber nicht das Bild, sondern nur den Ton. Das hört man auch, es ist ein sehr filmischer Ton. Man hört, wie Menschen von einem Raum in einen anderen gehen, auch mal nichts sagen, Pausen lassen. Wir haben den Ton so geschnitten, als wäre das Bild da. Dadurch entstehen ungewohnte Längen. Die triggern aber das Filmische an und lassen Bilder im Kopf entstehen.

Wie haben die Protagonisten des Films auf die Entscheidung reagiert nur den Ton zu verwenden? Sie haben die Menschen ja länger mit der Kamera begleitet.

Wir haben von Anfang an gewollt, dass wir diesen Film gemeinsam mit den Protagonisten auf der Berlinale vertreten. Wir haben dann eine lange Skype-Konferenz abgehalten und versucht, es zu erklären. Von Terry Diamond weiß ich, dass er es am Anfang gar nicht toll fand. Wir haben den Menschen aber immer wieder klar gemacht, dass sie nur durch ihre Abwesenheit im Bild nicht weniger präsent im Film sind. Man ist nicht abgelenkt durch das Setting, die Klamotten oder wie die Menschen aussehen. Man konzentriert sich voll auf die Stimme. Auf die Gemeinsamkeiten der Menschen. Da sie ja immer wieder das Gleiche aus unterschiedlichen Perspektiven betrachten. Die Protagonisten waren dann bei der Berlinale auch fast alle da und haben den Film vertreten. Das war für die Zuschauer fast ein Schock, als nach dem abstrakten Film, die realen Menschen da standen.

Havarie“ ist anstrengend für den Zuschauer. 90 Minuten verpixeltes Bild, wenig Bewegung.

„Havarie“ ist ein absoluter Kino­film. Der braucht eine große Leinwand und auch den Raum mit anderen Leuten. Der Film spielt auch mit der Erwartungshaltung im Kino. Dass man eine Bereitschaft hat, einen Film zu sehen. Wir hatten natürlich schon Sorge, dass Menschen das Kino während der Vorführung verlassen. Wir haben die Protagonisten deshalb bei der Vorführung bei der Berlinale auch in die vorderen Reihen gesetzt, um ihnen nicht zumuten zu müssen, wenn 100 Leute das Kino verlassen. Aber das war nicht so. Ins Delphi passen etwa 800 Leute rein, und es sind vielleicht 30 rausgegangen. Das ist ja lächerlich im Verhältnis.

Die Rahmenhandlung im Ton bilden die Funksprüche zwischen dem Schiff und der Seenotrettung. Sollten die von Anfang an in den Film?

Die zeitliche Struktur sollte von Anfang an durch den Funkverkehr vorgegeben werden. Und es war klar, dass der Film 90 Minuten dauern wird. Denn wir konnten durch diese Tonaufnahmen rekonstruieren, dass sich die Menschen wirklich 90 Minuten lang angeguckt haben. Wenn die im Film sagen: „Jetzt noch 30 Minuten“, dann sind es auch im Film noch 30 Minuten.

Gab es die Überlegung, den Film massentauglicher zu konzipieren?

Ich kann so gar nicht denken. Das ist nicht unser Interesse. Wir versuchen, mit filmischen Mitteln nachzudenken. Der Film lässt es zu, dass Menschen zwischendurch ihren Gedanken nachhängen. Im besten Fall sensibilisiert er für die Bilder, die uns jeden Tag begegnen. Das Bild des Flüchtlingsboots ist der normale Horror, die alltägliche Gewalt. Aber es passiert nichts, niemand fällt ins Wasser.

Wird das Filmmaterial – also auch die Bilder- noch mal verwendet?

Da sind wir uns noch nicht sicher. Wir haben überlegt eine Installation zu machen, aber bisher noch keine zündende Idee. Wir wollen ja auch nicht, dass dann das gleiche Problem auftaucht, weshalb wir den Film nicht so gemacht haben, wie geplant. Das Material wurde aber auch noch in dem Roman von Merle Kröger verarbeitet.

Inwiefern unterscheidet sich Krögers Roman „Havarie“ vom Film?

Wenn man den Film gesehen hat, wird man ganz viel wieder erkennen, einiges kommt auf Basis unserer Recherchen auch dazu. Wir haben schon vorher geplant, dass es ein Buch und einen Film geben wird. Dadurch dass sie in die Fiktion geht, kann sie auch Sachen integrieren, die in dem Film nicht untergebracht werden konnten. Erstellt beispielsweise aus mehreren Personen eine fiktive Biografie. Manche Leute werden vielleicht ins Kino gehen und die Verfilmung des Romans erwarten, aber das muss gar nicht schlecht sein. Man erkennt trotzdem Sachen wieder, ist aber mit einer Art von Film konfrontiert, auf den man nicht vorbereitet ist.

„Havarie“. R: Philip Scheffner. Dokumentarfilm, D 2016, 97 Min.

Hat sich inzwischen erneut etwas an der medialen Darstellung verändert?

Ja, im Moment kommen in der „Tagesschau“ keine Boote mehr an. Das liegt zwar auch am Winter, aber natürlich kommen auch jetzt noch Menschen übers Mittelmeer. Doch das Bild ist nicht mehr da. Es war ex­trem präsent, wurde dann abgelöst von Menschen, die über die Balkanroute kamen. Und inzwischen sieht man Flüchtlingsunterkünfte, und es wird über Kriminalität und Abschiebung gesprochen. Jetzt wirkt der Film noch mal sehr eindrücklich. Er endet damit, dass Terry Diamond das Boot aus dem Blick verliert und man nur noch sein Suchen sieht. Es ist ein offenes Ende. Dadurch könnte man sich vorstellen, dass sie immer noch da draußen sind. Jetzt wirkt es fast wie eine Erinnerung an das Bild von Flüchtlingen im Mittelmeer. Aber diese Menschen sind immer noch da.

Der Film wird später auch auf arte im Fernsehen sehen. Funktioniert der Film auch wenn man reinzappt?

Ja, das finde ich spannend. Ich stelle mir vor, dass Menschen da reinzappen und denken „Ah, da sind wieder Leute im Mittelmeer“. Und dann zappt man weiter und vielleicht wieder zurück und wundert sich dann, dass das Bild immer noch da ist. Und 30 Minuten später immer noch. Ich finde das ist ein ganz interessanter Effekt. Weil man tatsächlich merkt: Die sind ja die ganze Zeit da. Und sie bleiben auch da. Und es ist eben nicht nur eine Nachricht „Wieder 300 ertrunken“.

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