Dorfsterben in Norddeutschland: Schicksalsjahre von Dersau

Landschaftlich schön, trotzdem leer. Dersau in Schleswig-Holstein muss sich verändern. Oder sterben. Eine Ortsbegehung.

Paradiesisch schön: Noch ist der Plöner See ein Tourismus-Magnet Bild: Ann-Kathrin Liedtke

von LAILA OUDRAY und DAVID JORAM

Wer durch die Republik reist, der reist auch immer durch Orte, in denen keine Menschen auf der Straße sind. Orte, die zum Sinnbild des Wandels werden - weil es scheint, als ob das moderne Leben nicht zu ihnen passt. Was passiert, wenn "ein Dorf stirbt" wollte taz.meinland wissen und machte sich auf den Weg in den hohen Norden – genauer gesagt nach Dersau in Schleswig-Holstein.

945 EinwohnerInnen, am Großen Plöner See gelegen. Die Luft ist klar, es duftet wahlweise nach Wiese oder Wald. Wer die gut gepflegten Naturwege einschlägt, spürt einen erfrischenden Wind über die Wangen streichen. Er drückt die kleinen Wellen ans Ufer, die das Bild vom Paradies vervollständigen. Ein brachliegendes Paradies.

Die Dorfläden schließen, denn die Menschen kaufen lieber im großen Supermarkt ein. Postämter schließen, weil niemand mehr Briefe schreibt. Banken machen zu, denn es gibt Online-Banking. Kleinstädte und Dörfer verändern sich. Es ist ein Strukturwandel, der Deutschland im Gesamten verändern könnte. Immerhin wohnt etwa jeder vierte Deutsche in einer ländlichen Gemeinde.

Ein Bild vom Paradies

Auch Dersau hat sich verändert: Entlang der breiten Straßen herrscht Leere. Häuser mit Backsteinfassaden prägen das Ortsbild. Davor führen großzügige Einfahrten auf noch großzügigere Grundstücke. Sie wirken wie Residenzen aus mittelalterlichen Tagen. Es ist eine gemütliche Stadt, von fast überall kann man den See sehen. Verlaufen kann man sich kaum, alles führt auf den Dorfplatz hin.

Doch während man durch die Straßen schlendert, läuft man immer wieder an den leer stehenden Gebäuden vorbei: große wuchtige Bauten, die einmal einen Sinn hatten und jetzt verschlossen sind. Sie erinnern daran: Es war mal anders. "Wir waren einmal rundum versorgt.

Mahnmal für die geschlossene Schule

Es gab Bäckereien, Kneipen, Restaurants. Und wir hatten einen Fleischer, der auch geräuchert hat. Das hat sich alles innerhalb weniger Jahre geändert", wie sich Holger Beiroth, Bürgermeister von Dersau, erinnert. 2013, im Jahr seines Amtantritts, musste er sogar die Schule schließen - aus Schülermangel.

Ein Tiefpunkt, an den ein Holzmahnmal erinnert. Darauf steht eingeritzt „Dorfschule Dersau 1695-2013“. Zurzeit sucht der letzte kleine Lebensmittelladen sucht einen Nachfolger und findet keinen. Am 1. April wird die Bankfiliale vor Ort schließen. Wer hat Schuld? Die Gemeinde? Die Einwohner?

Von drei Restaurants hat nur eines überlebt, "Leibers Galerie-Hotel", wenigstens das läuft gut. Gutbürgerliche Küche, ein nobles, aber nicht abgehobenes Ambiente, schlicht, aber detailgetreu. In den Sälen fühlt man sich wohl. Draußen, im Vorgarten zum Eingang, strecken weiße Krokusse ihre Köpfchen durch die Erde; daneben steht ein Schild: Treffpunkt unbelehrbarer Träumer.

Friederike Leibers, die mit ihrem Mann gemeinsam das „Leibers“ betreibt, ist eine solche Träumerin und Macherin. In ihrem Hotel veranstaltet sie Vernissagen und organisiert mit anderen Bürgern weitere Veranstaltungen. Sie träumt von einem Café, „wo ich mich am Nachmittag hinsetzen kann".

Wer ist Schuld? Der Ort oder die Bewohner?

Am 8. März 2017 war die taz in Dersau und diskutierte mit den Menschen vor Ort. Was die Bewohner*innen erzählten, können sie in unserem Nachbericht erfahren.

Doch wer träumt noch davon? Die jungen Familien, die aus der Umgebung in den Ort gezogen sind, sind meistens Pendler, arbeiten beispielsweise in Kiel. Wer abends zurück nach Hause kommt, kümmert sich um die Familie; für Ehrenamt und Gemeinschaftssinn bleibt wenig Zeit und Kraft übrig – und vielleicht mangelt es auch am Interesse daran: Sie haben ihren Lebensmittelpunkt woanders, gehen in Ascheberg einkaufen, treffen sich in Plön oder Kiel oder besuchen einander zuhause.

Eine junge Dorfbewohnerin, die in Dersau aufgewachsen ist, aber lange weg war, findet:"Vieles spielt sich heute im Privaten ab. Früher saßen die Leute zusammen in der Gaststätte, um Karten zu spielen – jetzt schauen sie zuhause Netflix."

Nicht nur der veränderte Lebensmittelpunkt der jungen Familien hat Schuld am Strukturwandel. Beiroth stimmt zu: "Wir müssen uns alle an die eigene Nase fassen". Wer nicht im Ortsladen einkaufe, sondern im Supermarkt im Nachbarort, müsse sich nicht wundern, wenn der Dorfladen dann zumacht.

Auch die politischen Akteure im Ort hätten sich zu spät auf die gesellschaftlichen Entwicklungen eingestellt, findet Leibers. Man habe es nicht geschafft, Gewerbe an sich zu binden und es Gewerbetreibenden nicht gestattet sich zu vergrößern. Als dann im Nachbarort Ascheberg die Supermärkte eröffnet hätten, sei es für die verbliebenen Läden in Dersau schwerer geworden.

Rückzug ins Private

Jetzt müssen die Dersauer zum Nachbarort, wenn Sie einkaufen oder zum Arzt wollen. Dafür brauchen sie ein Auto, denn der Bus kommt vor allem am Wochenende selten. Ein Problem vor allem für die Senioren im Ort und jene ohne Auto. Für sie wurden die „Mitnahmebänke“ auf dem Dorfplatz errichtet. Wer nach Ascheberg möchte, setzt sich auf die Bank und wartet auf einen Autofahrer, der ihn mitnimmt. Das Konzept funktioniert gut, doch viele ältere Menschen denken über einen Umzug in den Nachbarort nach oder sind bereits umgezogen.

Es scheint, dass Dersau zu einem Schlafdorf für Pendler wird. Aber ein Teil der Einwohner wehrt sich dagegen. Sie versuchen, den Ort zu beleben: sie veranstalten Lesepicknicke, Festivals, halten die freiwillige Feuerwehr und die Sportsvereine am Leben. Manche gründen Arbeitsgruppen, mit denen sie die Not im Ort lindern wollen. Die "Mitnahmebänke" sind aus einer Initiative der „Arbeitsgruppe Zukunft“ in Dersau entstanden.

Strukturen sorgen für Identität

Dabei geht es nicht nur um persönliche Befindlichkeiten, sondern um die Identität von Dersau. So begreift sich der Ort als Tourismusstandort. Es gibt dort mehr als 170 Gästebetten im gewerblichen und privaten Bereich. Außerdem ist am See ein Campingplatz mit 190 Dauerstellplätze und ca. 30 Kurzcampingplätze an. Eine große Anzahl für so ein kleines Dorf.

Vor allem im Sommer sind alle Hotels, Ferienhäuser und Campingplätze belegt. Aber die Touristen fragen sich: Wohin, wenn alles schließt? Wenn nicht mal mehr ein Café zum Kaffeetrinken übrig bleibt?

Leibers berichtet von der Enttäuschung der Touristen, wenn sie aus dem Bus steigen und sehen: Dersau liegt wunderschön am See – aber so vieles fehlt. Schlafort? Tourismusstandort? Ort mit eigener Infrastruktur und eigenem Charakter?Die Einwohner müssen sich entscheiden: In was für einem Dorf wollen sie wohnen? Wie soll Dersau aussehen? Alles gleichzeitig geht nicht.