E-Books sind keine Bedrohung: Andere Form, anderer Inhalt

Das E-Book bietet neue Möglichkeiten, Inhalte zu präsentieren. Deshalb ist es keine Konkurrenz für das Buch, sondern eine Bereicherung.

Ist gar nicht schlechter als das gute, alte Buch. Es bietet ganz andere Möglichkeiten: Das E-Book. Bild: reuters

Zurzeit lese ich die Bücher der Shortlist für den Deutschen Buchpreis. Vier davon habe ich als E-Book, alle vier habe ich schon gelesen. „Indigo“ von Clemens J. Setz gibt es nur auf Papier. „Indigo“ ist wunderschön gestaltet. Einband wie alter Aktenordner, buntes Bildchen drauf, geprägte Schrift. Innen verschiedene Schriften, Briefe in Handschrift oder wie mit einer alten Schreibmaschine getippt, Altdeutsch …

Ein sehr schönes Buch, ich hätte gern einen Aufpreis bezahlt, damit es mir als Bonus zum E-Book geliefert wird. Gelesen habe ich erst mal die anderen, die E-Books, weil ich das schöne Buch nie dabeihabe. Ich bin etwas verstimmt darüber, dass mir das E-Book vorenthalten wird. Der Autor bestimmt, wie wichtig für mein Lesen die äußere Form ist. Als würde ich das Buch nicht verstehen, wenn ich die Gestaltung nicht würdige.

Ich bin eine geübte Leserin, ich kann abstrahieren und imaginieren, und zum Lesen brauche ich nichts als einen flüssig entzifferbaren Text, meine Augen und mein Gehirn. Ich habe wirklich Freude an dem schönen Buch. Aber wenn die Geschichte gut ist, habe ich kein Auge für die Gestaltung. Dann merke ich nicht, ob ich von Papier oder Display lese.

Es geht da offenbar vielen anders, denn wie vor 15 Jahren, als es auf Cebit und Frankfurter Buchmesse erste Gerüchte gab, dass diese E-Book-Sache nun in Fahrt komme, hallen immer noch „Untergang des Abendlandes“-Rufe durch Kommentare und Diskussionen. Geruch! Haptik! Und überhaupt: Einen E-Book-Reader könne man nicht ungestraft mit Kaffee überschütten, in die Ecke werfen oder am Strand liegen lassen (aber bei Nasenbluten ist er besser).

Papier versus E-Book

Argumente gegen E-Book sind oft entweder nostalgische Verteidigung des Papiers oder berechtigtes Schimpfen über die Unzulänglichkeit der Lesegeräte und den Formatewirrwarr. Wie Vinylschallplatten werden auch Papierbücher im Handel sein, solange wir sie kaufen wollen. Es wird dann gut funktionierende Book-on-Demand-Automaten geben, die ansehnliche Papierbücher in Einzelauflagen zu akzeptablem Preis ausspucken.

Während die einen das Papierbuch mit Zähnen und Klauen verteidigen, preisen andere die technischen Möglichkeiten elektronischer Literatur: Man kann ja auch so viel damit machen. Und wozu braucht man noch Verlage, wenn Bücher auch ohne Satz und Druckerei entstehen?

Noch dreht sich die Papierbuchwelt weitgehend weiter wie gehabt: Verlage schließen Verträge mit Autoren. Autoren schreiben Bücher, am liebsten gegen Vorschusszahlung, die vom Verlag lektoriert, korrigiert, gesetzt, gedruckt und vermarktet werden. Doch längst wiegen Verlagsmenschen und Autoren besorgt ihren Kopf hin und her, unterzeichnen Resolutionen oder pfeifen im Wald.

Leser gehen aus historischer Verantwortung sporadisch noch in „ihren kleinen Buchladen“, obwohl sie die meisten Bücher längst bei Amazon bestellen. Immer mehr Autoren ohne Verlag, die früher als gescheitert galten, kehren den schäbigen Druckkostenzuschussverlagen den Rücken und schieben ihre Bücher (nicht alle schlecht, nicht alle erfolglos) per Mausklick in die Öffentlichkeit. Erotische Kurzgeschichten für 99 Cent tauchen in E-Book-Bestsellerlisten auf. Die großen Buchhandelsketten flüchten zuerst ins Tinnefgeschäft und implodieren dann. Der Onlinebuchhändler wird Verleger, ohne Druckerei, aber mit gut funktionierendem Vertrieb.

Ändert sich das Erzählen von Geschichten?

Was bedeutet das alles für die Inhalte? Wird sich das Erzählen von Geschichten dadurch ändern? Solange es Papierbücher gibt, wird es als Nebenprodukte auch diese buchartigen E-Books geben. Zwischen zwei Buchdeckel passen Buchstaben und Bilder in einer begrenzt dehnbaren Menge: Der Inhalt sollte nicht dünner sein als der Einband und das Buch nur so dick, dass es noch die bekannte Quaderform hat.

In eine Datei passen Buchstaben, Bilder, Filmsequenzen und Geräusche und sonstige Software in fast beliebiger Menge. Das E-Book kann also mehr als das gedruckte Buch. Es kann zum Beispiel kürzer sein oder länger. Man kann es im Abonnement kapitel- oder episodenweise abrufen. Direkt aus dem Text heraus können die Leser mit dem Autor oder anderen Lesern in Kontakt treten. Das E-Book kann Lärm machen und Filme zeigen, Fragen stellen und beantworten.

Beim Sachbuch ist der mögliche Mehrwert offensichtlich: Aus Reiseführern werden Apps, die einem vor dem Kölner Dom erklären, dass man vor dem Kölner Dom steht, es gibt animierte Origami-Bastelanleitungen und sanft anleitende Stimmen in Yogabüchern, Vorführungen von Physikexperimenten und angeschlossene Diskussionen zu naturwissenschaftlichen Fragen; Sprachbücher können Tests integrieren. Vieles davon gibt es sowieso schon, ohne Buch: als Wiki, in dem kollektives Wissen gesammelt wird, in YouTube-Lehrvideos, Diskussionsforen.

Revival für kurze Texte

Aber was wird aus dem Erzählen, wie wir es bisher kennen? Ein Roman bleibt ein Roman. Das Bedürfnis nach langen Geschichten endet nicht von heute auf morgen. Daneben werden ein paar alte Bekannte wieder vermehrt auftauchen: Essay, Kurzgeschichten, Novelle und der fast verschwundene Fortsetzungsroman. Denn E-Book-Essays müssen nicht zu ganzen Büchern aufgepumpt werden, Autoren brauchen sich nicht neun weitere Kurzgeschichten abzuringen, um die eine richtig gute endlich zum Erzählungsband machen zu können. Kurze Texte werden einfach billiger verkauft.

Der Verlag Kiepenheuer & Witsch zum Beispiel bringt in seinem (gut versteckten) Programm „KiWi eBook extra“ (insgesamt neun Titel) einzelne Texte von Nick Hornby als „Singles“ heraus – nur digital, nicht gedruckt. Amazon vertreibt (noch nicht in Deutschland) „Serials“, abonnierbare Fortsetzungsgeschichten. Neben extra für das Format geschriebenen Texten wird auch „Oliver Twist“ von Charles Dickens als „Serial“ angeboten – in genau der Aufspaltung, in der das Buch als Zeitungsfortsetzungsroman zuerst erschien.

Und weil das E-Book zwischen Geschriebenwerden und Veröffentlichung nicht so lange untätig herumliegt wie das Papierbuch, kann es aktueller sein. So konnte Hanser Berlin im Sommer Jonathan Littells „Notizen aus Homs“ als E-Book sechs Wochen vor der Druckversion erscheinen lassen.

Die Funktion folgt aus der Form

Da ist aber noch mehr drin. Papierlose Literatur muss in Zukunft nicht mehr „Buch“ heißen. Briefromane könnten dem Leser nach und nach per E-Mail oder als Facebook-Nachrichten zugestellt werden. Wenn der Held auf Antwort wartet, wartet der Leser mit. Es könnte Serien geben, wie beim Fernsehen, mit Cliffhanger am Ende der Folge. Und Echtzeitliteratur.

Der Londoner Alltagschronist Samuel Pepys twitterte seine Tagebuchnotizen häppchenweise über drei Jahre lang – mit 343 Jahren Abstand. Von 2. bis 5. September 2009 konnten seine Follower so fast stündlich neue Schreckensmeldungen über den großen Brand von London im Jahr 1666 lesen („The churches, houses, and all on fire and flaming at once; and a horrid noise the flames made, and the cracking of houses at their ruins“). Scary!

Bei Pepys passt das Medium Twitter ideal zum Inhalt, denn Pepys’ Aufzeichnungen sind sowieso oft Ereignishäppchen aus dem Alltag. Die vielen Wiederholungen über Mahlzeiten und Kutschfahrten haben etwas angenehm Rituelles. Durch Pepys Teilnahme am vielstimmigen Twitter-Stream wird er einer von uns. Seine Tagebücher lassen sich ohne Verluste ins Blog- oder Twitterformat importieren – für Leser, die ohnehin mindestens einmal täglich solch eine Plattform besuchen. Die anderen teilen sich ihre Lesezeit vielleicht lieber selber ein.

Jede weitere Vorgabe des Autors ist autoritär: Schon allzu detaillierte Beschreibungen im Text, die dem Leser gar keinen Raum mehr für eigene Bilder lassen, gängeln den Leser. Je mehr der Autor zufügt, desto autoritärer geht er vor: wenn er dem Leser einen Zeitplan aufdrückt, Illustrationen zufügt oder ihm per Verlinkung weiterführende Studien abverlangt. Dass das alles auch gewünscht sein kann, zeigt sich in der Existenz von Blogs, Filmen, Bildbänden und Hörspielen. Aber der Leser entscheidet ja aus gutem Grund, ob er ins Kino geht oder einen Roman liest.

Das Lesen ist eine ziemlich autonome Angelegenheit. Die geschriebene Erzählung wird vom Autor zur Adoption freigegeben: Sie wird beim Leser fertig. Der Leser, die Leserin ergänzt die Bilder, Stimmen, Töne, Gerüche im Kopf, liest so schnell oder langsam, wie sie will oder kann. Wenn die Geschichte für die Leserin funktioniert, lebt sie das Leben der Figuren mit. Wer weniger Wert auf eigene Bilder legt, hört das Hörbuch an oder sieht Filme.

Technisch möglich ist vieles, also wird alles ausprobiert werden. Die Verlage verstecken bisher ihre halbherzigen Ansätze so gut, dass man den Eindruck hat, sie wollten lieber erst mal heimlich üben. Das ist vielleicht auch besser so, denn Buchtrailer und Videoschnipsel müssen sich an Film und Musikvideo messen lassen, „enhanced E-Books“ an Spielen und Apps, die von Spiele- und App-Profis entwickelt wurden.

Es genügt auch nicht, irgendeine Boy-meets-Girl-Geschichte in Facebook zu schreiben oder Oliver Twist zu zerhacken, nur um die Form mal zu nutzen. Macht es ordentlich, oder lasst den Quatsch.

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