EMtaz: Zidanes Geburtsort Marseille: Cité of God

La Castellane heißt die Siedlung im Norden von Marseille. Hier wurde der Fußballheld Zinédine Zidane groß. Doch daran erinnert nichts.

Ein Polizeihubschrauber fliegt am blauen Himmel auf einen Wohnhauskomplex zu

Ein Polizeihubschrauber fliegt über La Casté hinweg Foto: dpa

Vater und Tochter geben nicht auf. Mustafa und Ermine haben zwei Teppichklopfer an den Enden mit Paketband zusammengeklebt. Sie stoßen damit in eine Platane hinein, sie stochern herum, doch der Fußball will einfach nicht aus dem Geäst fallen. Erst als Ermine einen großen Satz mit dem Teppichklopfer macht, knallt der zerschlissene Ball nach unten. „But!“ – Tor! Das Mädchen im dunkelblauen Shirt von Olympique Marseille, hier nur OM genannt, jubelt.



Mustafa und Ermine heißen nicht so. La Castellane, kurz La Casté, wurde um 1960 aus dem Boden gestampft. Die einst mustergültige Sozialsiedlung wurde gebaut für dem Maghreb entstammende französische Familien. In der Cité La Casté wollen die meisten Menschen ano­nym bleiben oder nur ihren Vornamen nennen. Auf einer überschaubaren Fläche, nicht weit vom Meer und in Sichtweite von Marseille, leben rund 6.500 Menschen in 1.200 Wohnungen, meist in sechs- bis siebenstöckigen Häusern. Die Cité hat nichts von einer unförmigen Trabantenstadt, die man so oft um französische Städte herum sieht. Wären die Häuser nicht aus so abweisendem Beton und hätten sie nicht so enge Schießschartenfenstern und so winzige Balkone, es könnte regelrecht beschaulich sein in La Casté.


Es gibt hier nur ein Hochhaus mit 15 Stockwerken, und das soll demnächst abgerissen werden, denn es steht der Umleitung eines nahe liegenden Boulevards, der durch die Siedlung führen soll, im Weg. Von der Umleitung erhoffen sich Stadtplaner einen besseren Zugriff der Polizei auf das nicht so leicht zugängliche Viertel mit seinen kleinen Straßen und Wegen.

Mustafa, der als Putzmann jobbt im nahe gelegenen Grand Littoral, einem der größten Einkaufszentren Europas, sagt: „Dann ist es hier mit der Ruhe total vorbei.“ Aber eigentlich hat er keine Lust auf Journalisten. „Ihr schreibt sowieso alle immer nur dasselbe – dass La Casté hoffnungslos ist, dreckig und voller Drogen. Und Madame, wenn ich Ihnen einen Rat geben darf: Machen Sie keine Fotos, weil dann kriegen Sie es mit den Dealern zu tun!“

Oleanderbüsche und Pitbulls



Es weht ein scharfer Wind durch die Siedlung. Ein warmer Mistral. Er treibt einem den intensiven Geruch der Oleanderbüsche in die Nase, die sich wie ein Flickenteppich über das Gelände ziehen. In La Casté leben Franzosen vom Festland und solche aus den ehemaligen Kolonien. Es gibt hier viele Na­tio­nen, hier leben Tschetschenen, Togolesen und Menschen von den Komoren. Die Mehrheit von ihnen sind Muslime, eine eigene Moschee haben sie nicht, man betet in Wohnungen. Jetzt ist die Zeit des Ramadan, viele in La Casté sind gläubig. Gekickt wird deshalb weniger als sonst.


In der schattigen, baumbestandenen Allee de l’Escapade spielen Kinder mit Pappkartons. Ein kleines blondes Mädchen mit Schneckenzöpfen läuft auf uns zu, überreicht einen Jasminzweig, weiter hinten wirbelt Müll durch die Luft. Plötzlich stellt sich uns ein kräftiger junger Mann im Bayern-München-Leibchen in den Weg, einen Pitbull im Anschlag. „Hau ab! Was machst du hier?“, schnaubt er. Auch Einschüchterungsversuche sind eine Form von Kommunikation.

Lorenzo aus La Casté

„Wir sind keine Franzosen, wir sind aus Marseille!“

Wir sind verabredet mit José, er organisiert den Jugendfußballclub „Nouvelle Vague“, gegründet 1992, zuerst nur für Männer. Aber: „Heute will sich ja fast keiner mehr bewegen, wenn er über 20 ist. Auch nicht, wenn er, wie sehr viele Männer hier, arbeitslos ist.“ Ehrenamtlicher Clubpräsident ist einer der drei Brüder von Zinédine Zidane, Farid. Rund 70 Kinder zwischen acht und dreizehn Jahren trainieren regelmäßig außerhalb der Siedlung, zwei Mädchen sind auch dabei. Das Clubbüro liegt an der Place de la Tartane, dem Hauptplatz der Cité.

José, Anfang 50, sitzt im Trainingsanzug zwischen Pokalen, die der in Rot-Gelb spielende Club gewonnen hat. Er deutet nach draußen auf Bauschutt und Bagger. „Hier haben sie vor Kurzem den zweistöckigen Betonriegel gesprengt, in dem Zinédine in den siebziger und achtziger Jahren mit seiner Familie wohnte.“ José, ein Einwanderer aus Spanien, schwärmt von der Cité, wie sie früher war, da habe es noch Zusammenhalt gegeben. „Ab Anfang der neunziger Jahre ging es bergab – es kamen einfach zu viele Menschen mit Problemen.“ Er wohnt schon lange nicht mehr hier, aber er engagiert sich immer noch.

Trikots von Adidas



Seit 2012 gibt es mal wieder Umbaupläne der französischen Behörden. Stadt und Land stellen schleppend Geld zur Verfügung. Ein Park ist im Entstehen, „alles zieht sich hier sehr, die Administration in Frankreich ist so eine Sache für sich“, sagt José. Dass Zidane die Trikots für die Nouvelle Vague gratis von Adidas besorgt, „das ist schon eine enorme Erleichterung. Die Eltern hier können dir keinen Sous zahlen.“



Sie nennen ihn Zinédine in La Casté, nicht Zizou. Der Sohn algerischer Einwanderer, Berber aus der Kabylei, wird hier nicht verniedlicht. Neben drei Por­träts von ihm an der Wand liegt im Clubbüro ein Staubwedel. Zidane fing bei Foresta an, dem damaligen Fußballclub der Cité, dann ging es zum benachbarten Verein US Saint-Henri, und mit 14 landete er im Fußballinternat der AS Cannes. José blickt über seine große, quadratische Goldrandbrille nach draußen, seine Bürotür ist nur einen Spaltbreit geöffnet. Draußen patrouilliert der Pitbull in Begleitung.

„Die tun Ihnen nichts, Madame, die machen hier einen auf Revierverteidigung. Die sind viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt.“ Sechs Drogennetzwerke gibt es laut José im ­Viertel, „und wenn die Polizei eins aushebt, ploppt sofort ein anderes hoch.“ Generell ließen sich die Bullen nie blicken. 

Im Tabac nebenan laufen Pferderennen im Fernsehen, der Bildschirm des Reitsportsenders Equidia ist viergeteilt, und Michel, der mit seiner Baskenmütze aussieht wie für eine Gauloise-­Werbung gecastet, ist am Fluchen.

„Ich hätte nicht auf Major Fridolin setzen sollen, was für ein Loser!“, sagt er. Der Tabac ist hier, wie so oft in Frankreich, auch gleichzeitig das Wettbüro von PMU, dem vom Staat kontrollierten Pferdewettenanbieter. Im Vergleich zu ähnlichen Läden, etwa in Paris, ist dieser Laden hier ein Ausbund an Ordnung. Fast alles scheint einen Euro zu kosten, ob Kekse, Stifte oder ein exzellenter, starker Espresso im Plastikbecher.

Es ist nicht leicht



An der Tür des Tabac hängt ein Plakat des FFC, der Fußballföderation von La Casté. „Hier, das ist meine Mannschaft: C PAS FACILE heißt sie“, zeigt Kader, und seine Augen verschwinden hinter der extradunklen Sonnenbrille. Der Dreiundzwanzigjährige erzählt, dass er hin und wieder einen Job als Maler hat in der Stadt, „c’est pas facile“, es ist nicht leicht, sagt er und lächelt. Kader zeigt uns den Weg zu Manu Daher, der im Sozialzentrum der Cité Sportangebote organisiert.



Zur Begrüßung klärt der gleich auf, dass der FFC kein richtiger Club sei wie die Nouvelle Vague, und, nun ja, dass es hin und wieder schon „com­pli­qué“ mit denen sei, von wegen Konkurrenz und so. „Wir trainieren und spielen zwar nicht so oft, aber wir haben ein großes Angebot. Bei uns kann man bis 40 Jahre Fußball spielen!“ Daher spricht den Slang von Marseille – c’est pas facile ihm zu folgen. Er ist freundlich, aber man merkt trotzdem: Auch hier im Sozialzentrum sind sie nicht erpicht auf Medienkontakte. Nassim Khelladdi, der Leiter des Zentrums, meldet sich nicht auf Mails, lässt sich nicht blicken.

Mustafa aus La Casté

„Machen Sie keine Fotos, weil dann kriegen Sie es mit den Dealern zu tun!“



Manu Daher, ein bulliger Macher, den man sich schlecht längere Stunden hinter dem Schreibtisch vorstellen kann, schickt uns zum Stade de la Jou­ga­relle, dem Fußballplatz mit einigen in Stein gehauenen, himmelblau gestrichenen Sitzreihen für Zuschauer. Der Weg dorthin ist staubig, eigentlich ist es gar kein Weg, sondern ein abschüssiges Geröllfeld. Hier soll der neue Park entstehen. Es ist heiß, und die Sonne sticht. Als wir uns nach den Betonriegeln der Cité umdrehen, blitzt eine menschliche Silhouette auf: Ein guetteur, ein Späher, ist zu sehen. Nah am Horizont tuckert auf dem Meer derweil eine gigantische Luxusjacht Richtung Marseille. Arme Schweine zu Wasser und zu Lande.



Auf dem Platz kicken Lorenzo und Mohammed, beide sind Anfang 20 und beide sind nicht gerade erklärte Anhänger der Équipe Tricolore. „Wir sind keine Franzosen, wir sind aus Marseille!“ Lorenzo ballt die Fäuste, dann zeigt er stolz sein schwarz-weißes Tattoo auf dem muskulösen Oberarm – über dem Logo „OM“ für Olympique Marseille steht dick und fett: „Droit au but“ – Recht auf Tor. Und was ist mit den beiden OM-Spielern Steve Mandanda und Lassana Diarra im Kader der Bleus? „Es sind viel zu wenige OM-Spieler dabei, und die beiden, ach, die sind auch ganz schön eingebildet mittlerweile“, meint Mohammed, und wenig später locht er wirklich perfekt ein. Als er sich umdreht, sieht man auf seinem Sportshirt in großen Lettern „France“.

La Mannschaft

Zum Abschied sagt Lorenzo, dass er eigentlich ganz gern hier in La Casté sei, wenn es nur nicht so eng zu Hause wäre. „Deshalb sind wir so viel draußen, daheim kriegst du einen Vogel.“ Wir machen uns auf den Weg zum Schwimmbad, das Geröllfeld hinab. Wenig später geht es vorbei an einer marokkanisch geführten „Alimentation“, einem Gemischtwarenladen mit gekachelter Grilltheke, an der es köstliche Hamburger mit Harissa gibt, garniert mit der nicht bös gemeinten Frage „Vous êtes seule içi?“, „Sind Sie allein hier?“. Kabir, ein kleiner afghanischer Junge, ist zum Einkaufen geschickt worden. und auf die Frage, was er von den Bleus hält, meint er nur knapp und mit zwei Milch im Arm: „Sans Benzema ça marche pas“, ohne Benzema geht da gar nichts.“



Beim Verlassen des Ladens patrouilliert auf dem Flachdach gegenüber ein martialisch schwarz Vermummter mit einem Käppi von La Mannschaft, den Deutschen. Als wir uns bewegen, murmelt er wichtig in sein Handy. Ein Kreuzfahrtschiff tutet in der Ferne, der Weg zum piscine ist angenehm schattig unter Pinien. Um einen Blick in das kleine Hallenbad werfen zu können, wo gerade eine längere Siesta gemacht wird, klingeln wir nebenan beim Hausmeister, dem gardien. Er wohnt in einem schlichten, weiß getünchten Flachdachbungalow, keine große Botanik außen herum, nur ein paar Handtücher auf der Leine. Ein schlaksiger, schüchterner, vielleicht 13-jähriger Junge kommt an die Tür. Hinter ihm steht ein Mann mit scheuem Grinsen, vielen Lachfalten – und in Hausschuhen.



Seit wann trägt Zidane Hausschuhe? Und seit wann hat er so viele Falten? Der Mann ist einem sofort sympathisch. Er heißt Djamel Zidane. Er ist 52 Jahre alt. Seit zwölf Jahren kümmert er sich um das Schwimmbad von La Castellane. „Aber bitte nennen Sie mich James.“ James ist der ältere Bruder von Zinédine, mit seiner Schwester Lila und den Brüdern Nordine und Farid wuchs er in der Cité auf. „Doch ich bin schon seit sechs Jahren nicht mehr oben gewesen: zu viel Gewese, zu viel Drogen und Alkohol. Das sind alles nette Leute da, aber …“ Er serviert ein Glas Wasser, „möchten sie es lieber lauwarm oder kalt?“ Dann schlüpft James Zidane aus seinen Hausschuhen.

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