Ein Dorf träumt vom frischen Wind aus Osten

■ Mölbis bei Espenhain: Eine zusammengeschweißte Dorfgemeinschaft im Hinterhof der Baunkohle-Chemie/Der dreckigste Ort in der DDR muß sich entscheiden zwischen Gift und Vertreibung

Manfred Kriener

Ortspfarrer Karl-Heinz Dallmann hat einen wunderschönen Traum. Es muß doch möglich sein, glaubt er, daß der große Umbruch auch in sein kleines Dorf kommt. Dieses Dorf, das häßlichste der Republik, sollte in das schönste Dorf der DDR verwandelt werden, in ein richtiges niedliches Musterdorf, in dem sich die Einwohner rundum wohl fühlen. Mit einer solch demonstrativen Umwandlung könnte die neue Regierung für das ganze Land ein Zeichen setzen. Für Pfarrer Dallmann wäre das ein „Beweis der Glaubwürdigkeit für einen wirklichen Neubeginn“. Er hat sich an diesen Traum wie an eine große Hoffnung geklammert und er hat ihn den Einwohnern von Mölbis erzählt. Viele sind mit leuchtenden Augen zu ihm gekommen. „Glauben Sie wirklich, Herr Pfarrer?“

Idealer Drehort für einen Nachkriegsfilm

Mölbis liegt bei Espenhain im Kreis Borna. Wer immer der Nase nach fährt, kann diesen Ort nicht verfehlen. Dort, wo es am schlimmsten stinkt, ist Mölbis, das Arbeiterdorf im Carbo-Chemiezentrum der DDR. Es liegt direkt in der Abwindfahne, am Schornsteinrand von zwei Dutzend monströsen Schloten, die rund um die Uhr schwarze und gelbe Wolkengebirge ausstoßen. Dick und ätzend. Was von dem dampfenden und brodelnden Moloch der Braunkohle-Chemie in Espenhain ausgespien wird, hat in Mölbis nur einen Namen: das Gas. An 310 Tagen im Jahr treibt es der Westwind über die Häuser und Straßen, kriecht es in jede Ritze und bleibt in Kleidern, Haaren und Hälsen hängen.

Mölbis trägt Schwarz. Eine dichte Rußpatina hat diesem Dorf das ganze Jahr den Traueranzug angelegt, selbst die Enten und Hühner, die in einer Voliere den Nachmittag verdösen, sind angeschwärzt. Die Gören, die einen Steinwurf weiter auf dem Bürgersteig spielen, sehen aus wie kleine Schornsteinfeger. Der beißende Geruch, der jedem Neuankömmling einen milden Brechreiz in den Magen legt, scheint sie nicht zu stören. Ungestört bleiben sie auch vom Stoßseufzer jeder deutschen Mutter, sich doch auf der Straße nicht schmutzig zu machen. Hier haben die Mütter andere Sorgen.

Löchrige und vernarbte Fassaden, die verlassenen Ruinen von Umwelt-Flüchtlingen und die angefressenen Häuser der noch verbliebenen Einwohner säumen die „Straße der Republik“. Nur das neue Emaille des Straßenschildes glänzt sauber und will nicht an diesen dunklen Ort passen. Wer einen Nachkriegsfilm drehen will, sollte das in Mölbis tun. Kein anderer Ort in Deutschland bietet eine ähnlich morbide Kulisse. 18 verlassene Häuser verrotten vor sich hin. Sie werden nicht abgerissen.

Die bewohnten Häuser sehen kaum besser aus. „Wir haben's verschlampen lassen, was soll man auch machen“, sagt Rolf Naundorf, Hausbesitzer, Lehrer und Ratsherr in dem 380 -Einwohner-Dorf. Wie so viele andere im Ort hat er den Wettlauf mit der Chemie längst aufgegeben.

Lehrer Naundorf will fort aus Mölbis. In seinem Traum lebt er schon in einem neuen Haus, für das er „gespart und gespart“ hat, an einem anderen Ort, wo „man nicht so mit den Menschen umgeht“. Seit Generationen wohnen die Naundorfs in diesem Dorf, aber jetzt ist Schluß, „es ist unerträglich“.

Heute ist ein normaler Tag in Mölbis, die Kurve des Meßgeräts im Bürgermeisteramt zeigt 800 Mikrogramm Schwefeldioxid pro Kubikmeter Atemluft. Der DDR-Grenzwert für Smog von 500 Mikrogramm ist deutlich überschritten. Doch in Mölbis gibt es keinen Smogalarm. Wenn überhaupt, müßten hier die wenigen smogfreien Tage angezeigt werden, an denen der Ostwind die Einwohner verschnaufen läßt. An solchen Tagen werden die Zimmer und Betten gelüftet, und die Wäsche, die sonst die Zimmer und Flure versperrt, kommt nach draußen auf die Leine.

Innerhalb von Stunden

gehen die Pflanzen ein

2.500, selbst 3.000 Mikrogramm Schwefel und darüber wurden in Mölbis schon gemessen (siehe Kasten), dazu hohe Staub und Rußwerte und ein bis heute unbekannter Giftcocktail aus vielen anderen Chemikalien. Es gibt Tage - und vor allem Nächte - in Mölbis, an denen die Bäume innerhalb weniger Stunden ihre Blätter abwerfen und alle übrigen Kulturpflanzen eingehen. Auch das unter Schutzfolien mühsam gezogene Freilandgemüse stirbt dann ab. Die Blätter werden braun, die Pflanzen fallen zusammen. Nach solchen Tagen kommt Gutachter Dieter Gensch in das Dorf. Er schätzt die entstandenen Schäden und sorgt für Ausgleich. Salat- und Tomatensetzlinge, Saaten und Jungpflanzen werden kostenlos an die Bewohner verteilt.

Trotz der Giftwolken wird noch Gemüse angebaut und gegessen. „Räucherware hält sich länger“, sagen die Mölbisser in ihrer Art von Humor. Vor zehn Jahren soll es sogar noch Obstbäume gegeben haben. Doch die Produktionssteigerungen der 80er Jahre in Espenhain haben sie ebenso dahingerafft wie alle Nadelgehölze.

Bei der letzten „Begrünungsaktion“ der Gemeinde im Rahmen der „Ortsgestaltungskonzeption“ wurden vor allem Pappeln und Eschen gepflanzt, die besonders robust sein sollen. Doch vom „Grün“ ist nichts zu sehen. Nur unter dem Urinstrahl eines Jungen, der Figuren ins schwarze Gras pinkelt, kommt es rußbefreit zum Vorschein.

Verantwortlich für Ruß, Gift und Dreck ist das Braunkohle -Kombinat von Espenhain, nur 3.000 Meter vom Ortskern Mölbis entfernt: Zwei Braunkohle-Kraftwerke, zwei Brikett-Fabriken und vor allem zwei Kohleschwelereien beschäftigen hier 6.000 Menschen. An der Produktion hängt die ganze DDR. Phenole für die Plastikherstellung, Ammoniak, Benzole, Treibstoffe, Bitumen, Teer, Koks, Schmierstoffe, Öle, Schwefel und anderes mehr werden aus der Braunkohle herausgeholt. Weltweit hat die Petrochemie die Kohle zwar längst verdrängt, doch die DDR setzte auf Autarkie und heimische Rohstoffe und minimierte die Einfuhr von Erdöl zugunsten der Braunkohle.

1938 ist das Werk Espenhain von den Nazis zur Benzingewinnung für die Wehrmacht gebaut worden. Noch heute sind zwei Hakenkreuze auf den riesigen Kesseln sichtbar und bezeugen ihre Herkunft. Mehr als 50 Jahre wird die völlig verschlissene und technisch beinahe museale Anlage inzwischen betrieben - unter dem Druck von immer größeren Planzielen, mit immer höheren Produktionsergebnissen, mit immer schlechterer Braunkohle, mit immer häufigeren Störfällen und immer größeren Giftfrachten, die aus den Schornsteinen steigen.

Schon Anfang der 70er Jahre sollte die Carbo -Chemieproduktion auslaufen. In den 60er Jahren wurde Espenhain deshalb voll auf Verschleiß gefahren, ihre Schließung und die Umstellung der Chemie auf Erdöl-Basis war ausgemachte Sache. Doch dann kam die Erdölkrise. Verknappung und Preisexplosion ließen die Petro-Pläne der DDR platzen, Espenhain mußte weiterlaufen, um jeden Preis. Und Mölbis mußte weiter leiden.

Dietmar Haym ist seit 1984 Bürgermeister von Mölbis. In seinem Arbeitszimmer, verziert mit den Ehrenurkunden der Sportvereine, empfängt er die Weltpresse. Schwedisches und niederländisches Fernsehen, ARD und ZDF, die Philadelphia News, CBS, Bild, Bunte und taz geben sich die Klinke in die Hand. Nur das DDR-Fernsehen fehlt. Alle anderen kommen im Rudel nach Mölbis, um über „rote Augen“, „Gaskinder“ und das „dreckigste Stück DDR“ zu berichten. Gerhard Haym gibt erschöpfend Auskunft. Wer jahrelang schweigen mußte, hat viel zu erzählen.

Der Bürgermeister

will das Dorf sanieren

Auch der Bürgermeister hat einen Traum, auch er sieht eine Zukunft für Mölbis. In vier Jahren, so das Versprechen der neuen Regierung, soll das Braunkohle-Monster vor seiner Haustüre stillgelegt und seine Gemeinde „rekonstruiert“ werden. In seinem Traum wird er in vier Jahren noch immer der Bürgermeister sein und die Sanierung jenes Dorfes organisieren, das nach seinen Recherchen einmal eines der schönsten im Großraum Leipzig war. Doch schon bald könnte sein Traum zerplatzen. Die Einwohner von Mölbis sollen nämlich in einer Volksabstimmung entscheiden, ob sie ihr Dorf als unbewohnbar aufgeben und umsiedeln wollen oder ob sie durchhalten, bis 1992 die Produktion in Espenhain um 50 Prozent reduziert und 1994 ganz beendet wird. Bislang war das Dorf darüber gespalten. Die meisten jungen Leute wollen gehen, die alten wollen bleiben.

Der Riß geht quer durch die Familien. Während der Bürgermeister für das Durchhalten bis zur Schließung von Espenhain kämpft, möchte seine Frau lieber heute als morgen Mölbis verlassen. Aber noch sind die Alternativen nicht klar. Was heißt eigentlich Umsiedlung? Ein neues Dorf irgendwo auf der grünen Wiese wird es nicht geben. Vermutlich werden die Mölbisser irgendwo an bestehende Infrastrukturen einer anderen Stadt und Gemeinde angehängt. Womöglich werden sie in eine Hochhaus-Kolonie gezwängt. Haym befürchtet in jedem Fall das Ende seiner Dorfgemeinschaft. Die gemeinsame Not hat sie zusammengeschweißt. Und für Haym ist dieser schwarze vergiftete Flecken trotz allem ein Stück Heimat geblieben.

Mit leuchtenden Augen berichtet er von den Errungenschaften in Mölbis: Man habe viel erreicht, nur beim Umweltschutz sei man nicht vorangekommen. „Nur beim Umweltschutz“ - das klingt wie die Bilanz eines Verhungernden, der alles bekommen hat, nur nichts zu essen.

Auf der Habenseite des Bürgermeisters steht der Bau des Kindergartens, der Bau des Kulturhauses mit Gaststätte, das neue Sportlerheim, die Gemeindebibliothek, die Schwesternstation und vor allem die „einzige Fußball -Jugendmannschaft im Umkreis“ und die Kegelbahn, „die einzige Zwei-Bahn-Anlage mit automatischer Kegel-Aufstellung im südlichen Leiziger Raum“. Auch einen Chor hat der Ort, zwei aktive Herren-Fußballmannschaften und ein Altherren -Team mit dem Bürgermeister im Tor. Bis heute habe man trotz der Gaswolken noch kein einziges Fußballspiel abbrechen müssen, freut er sich.

Wie lange halten bei der Luft die Lungen durch?

Die eiserne Durchhalte-Ethik reicht bis in den Fußballverein. Lieber Kotzen als Kapitulieren? Körperliche Höchstleistung im Schwefeldunst bei sechsfacher Grenzwert -Überschreitung? Schon am Ortseingang wurde der Besucher mit dieser Haltung konfrontiert. „Da staunen Sie, was? Die größte Umweltsünde Europas!“ strahlte ein zufriedener Mölbisser. Wenn schon vergiftet, dann wenigstens richtig! Und der aufblitzende Stolz, es im verpesteten Hinterhof der Braunkohle-Chemie so lange ausgehalten zu haben, verdeckt die nagende Verzweiflung. Was bleibt denn auch übrig, außer durchzuhalten?

Vom Braunkohlewerk Espenhain erhält der Ort jährlich 27.000 Mark Ausgleichsgeld. Die Kinder bis zum vierten Schuljahr dürfen im April drei Wochen kostenlos ins Landschulheim in die Dahlener Heide, berichtet der Bürgermeister. Auch für die Erwachsenen gibt es drei kostenlose Ferienunterkünfte in Klingenthal und am Plauener See. Drei Wochen Luftschnappen nach 49 Wochen Gestank, Kopfschmerzen und Kratzen im Hals.

Alle zwei Jahre muß in Mölbis neu tapeziert werden, nach drei Jahren sind die vom Schwefel angenagten Antennen fällig, sieben Jahre überlebt eine Dachrinne. Wie lange halten die Lungen? Nach Auskunft der Ärztin Ingrid Koschny leidet ein Drittel aller Mölbisser Kinder an chronischer Bronchitis und Hautausschlägen. Kinder im Krippenalter erkranken etwa sechsmal im Jahr an Racheninfekten. „Eine deutliche Zunahme“ verzeichnen die Mediziner auch bei sogenannten „Kontakt-Ekzemen durch Chemikalien-Berührung beim Spielen auf der Wiese“ (Koschny). Bei Asthma und Herz -Kreislauf-Erkrankungen liegt der Kreis Borna an der Spitze der DDR.

Fragen müssen gar nicht

gestellt werden

Diese medizinischen Bilanzen, für die es noch immer keine exakten Zahlen und Vergleichsmodelle gibt, waren bis zu den November-Ereignissen tabu. Von den Ärzten, die jetzt mit kritischen Stellungnahmen in der DDR-Gewerkschaftszeitung 'Tribüne‘ an die Öffentlichkeit traten, sei die ganzen Jahre nichts zu hören gewesen, konstatiert der Bürgermeister bitter. Und was hat er selbst unternommen? Hat er tatsächlich alles Menschenmögliche für seine Gemeinde getan? Oder hat er sich arrangiert mit der verhaßten SED, deren Mitglied er war und ist?

Diese Fragen braucht niemand zu stellen. Sie sitzen dem Bürgermeister unübersehbar und schwer auf den Schultern und füllen drohend das kleine Amtszimmer dieses freundlich -sympathischen Mannes aus. Seine Rede wird wie von selbst zur Auseinandersetzung mit diesen unausgesprochenen Vorwürfen.

Von turbulenten Ratssitzungen, gegen die der Bundestag „ein Scheißdreck“ ist, berichtet Gerhard Haym: „Wir haben uns angeschrien.“ Auch bei den Treffen mit den anderen Bürgermeistern habe er auf den Tisch gehauen, aber die hätten „die Mölbisser Gasmenschen“ nur ausgelacht. Immer neue Zugeständnisse und Gelder habe er nach Mölbis geholt. Aber Ende 1987 sei dann das Todesurteil gekommen, der Beschluß, das Dorf endgültig auszusiedeln und abzureißen. Nach der „Wende“ ist dieser Beschluß zurückgenommen worden, jetzt sollen die Mölbisser per Abstimmung selbst entscheiden. Doch an jenem Tag im November 1987 hat sich Gerhard Haym „einen angedudelt“.

Geschickt getarnte Unterschriftensammlung

Der Lehrer Rolf Naundorf sieht den Bürgermeister als „Kämpfer gegen die Industrie“, und auch die Frauen im Einkaufsmarkt bescheinigen ihm Tüchtigkeit. Doch es gibt da einen wunden Punkt, der auf ihm lastet, eine zentrale Frage, die ihn immer wieder beschäftigt: Hätten sich die Mölbisser auf die Straße setzen sollen? Genau dazu aber sei er nicht bereit gewesen. Es gab Stimmen im Ort, die eben das gefordert hatten, aber hier hörte für ihn und den Rat der Gemeinde der Widerstand auf. Und hätte es denn genützt, ohne Presse und Unterstützung von außen? Was wäre geschehen mit den Helden von Mölbis und ihrem Dorf?

Doch dies ist nicht nur die Gretchenfrage für Mölbis. Es ist wohl an vielen Orten die nationale Frage der DDR: Hat man sich zulange arrangiert mit den Verhältnissen? Diese Frage muß jeder für sich beantworten, auch den Bürgermeister quält sie. „Wir können uns alle hier in die Augen schauen“, versucht ihm Lehrer Naundorf zu helfen.

Hilfe kam in Mölbis nur von der Kirche und den in ihrem Umfeld agierenden Umweltgruppen. 1984 zelebrierte der Landesbischof den ersten Umweltgottesdienst in der Gemeinde. Und mit ihrer Aktion „Eine Mark für Espenhain“ veranstalteten die Umwelt- und Kirchengruppen eine als Spendenaktion geschickt getarnte Unterschriftensammlung. In Mölbis selbst war vor den November-Ereignissen Pfarrer Dallmann der emsigste Umweltaktivist. Er gehörte auch zu jenen Umweltschützern, die gemeinsam mit dem Hessischen Rundfunk und einer ausgeliehenen Videokamera konspirativ die Umweltschäden in Mölbis filmten.

Freiwillig ist Dallmann mit seiner Frau und vier Kindern nach Mölbis gekommen, aber begrenzt für ein paar Jahre. Als Christ sieht er hier seinen Platz. Aber alle glauben, Dallmann hätte was Schlimmes ausgefressen und sei strafversetzt worden. „Das kann ich den Leuten nicht ausreden, für sie ist Mölbis wie Sibirien, da kommt keiner freiwillig her.“ Dallmann ist hier zum Espenhain -Spezialisten geworden. Temperaturen, Luftdruckwerte, Kohle -Feuchtigkeitsgehalte, die Tricks der Arbeiter, um mehr, schneller, damit aber auch giftiger zu produzieren, sind ihm bis in die technischen Details vertraut.

Und er kennt das Stasi-Eck. Dort an der Kegelbahn hätten die unauffälligen Herren mit ihrem Lada gestanden, wenn der Pfarrer Besuch hatte. Er habe sie vergeblich eingeladen, sich bei ihm ein wenig aufzuwärmen. Da seien sie schnell verschwunden. Der Pfarrer berichtet über die Protestbriefe und Petitionen einzelner Einwohner nach Ost-Berlin. Selbst mit dem Grauen im Nazi-KZ sei das Leben in Mölbis in einer dieser Eingaben verglichen worden.

Dann sollte endlich Energieminister Mitzinger nach Espenhain kommen. Zehnmal täglich seien daraufhin die Straßen abgespritzt und vom Ruß befreit worden, Zäune wurden gestrichen, Fassaden ausgebessert, es wurde geputzt und gewienert. Doch offenbar ließ sich die Region trotz aller Anstrengungen nicht ministergerecht aufpolieren. Mitzinger, Adressat vieler Proteste, ließ sich jedenfalls nicht blicken, der Besuch wurde abgesagt.

Dabei hätte er allen Grund gehabt, gerade hierher nach Mölbis zu kommen. Seine Frau ist die Tochter des Mölbisser Dorfschmiedes. Mitzinger wußte über die Lage vor Ort detailliert Bescheid. Nach dem 9.November wurde derselbe Mitzinger stellvertretender Minister für Umweltschutz. „Das war der Gipfel der Unverschämtheit, da haben sie den Bock zum Gärtner gemacht“, empört sich Dallmann, und spätestens hier hat der Pfarrer gemerkt, daß „da noch immer dieselben Leuten sitzen, daß sich noch nichts geändert hat“.

Direkt gegenüber vom Pfarrhaus liegt der Einkaufsmarkt des Ortes. Anke, Bärbel und Frau Quellmalz bedienen die Mölbisser. Die versprochenen Extra-Rationen an Südfrüchten sind zwar bis heute nicht eingetroffen, aber was man zum Leben braucht, ist hier zu haben. Backwaren, Getränke, Gemüse, Kurzwaren, Kosmetika - ein kleines Rundumangebot auf 25 Quadratmetern.

„Zeigen Sie nur,

wie wir hier leben!“

Für die Limonade und zwei belegte Brötchen will man dem Gast aus West-Berlin kein Geld abnehmen. Viele Mölbisser freuen sich über die ausländische Presse und feuern sie an, die schlimmsten Stellen im Dorf zu fotografieren, um aller Welt zu zeigen, „wie wir hier leben“. Andere schämen sich und laufen davon, sobald sich ein Fotograf ihren verfallenen Häusern nähert.

Anke und Bärbel berichten ohne Scheu. In ihrem Jungmädchen -Traum sitzen sie in Thüringen oder in Mecklenburg in einer kleinen eigenen Wohnung. Dort ist das „Putzen, Putzen, Putzen“ endlich vorbei, der Druck auf den Bronchien, das Hoffen auf Ostwind, die schwarzen Fußabtreter und der Gestank in den Kleidern. Ob sie jemals in ihre hübsche Traumwohnung einziehen? Bei der akuten Wohnungsnot in der DDR war ein Umzug für unverheiratete Frauen ohne Kinder bisher völlig ausgeschlossen, sagen sie. Und die „Situation“ in Mölbis wurde nicht als Umzugsgrund anerkannt.

Für kinderlose und unverheiratete Einwohner waren somit alle Fluchtmöglichkeiten versperrt. Sie saßen ausweglos in der Falle. Vielleicht wird es jetzt anders und ihr Traum doch noch wahr. Anke will jedenfalls nichts von einer „Rekonstruktion“ des Ortes nach der Stillegung der Braunkohlewerke wissen. Der Dreck und Gestank sitze hier überall drin, der Boden sei auf Jahre verseucht, ein Neuanfang habe keinen Sinn mehr, „hier stehen doch nur noch Ruinen“.

Auch Frau Quellmalz, Bewohnerin aus dem „etwas besseren“ Nachbarort, sieht keine Perspektive für Mölbis. Aber sie zerbricht sich nicht über Umsiedlung oder Ausharren den Kopf. Sie träumt von der „Vereinigung mit dem Westen“, daß es „uns einmal so gut geht wie Ihnen“. In Ihrer Zukunft zieht die Bundesrepublik die DDR aus der Krise. Mit eigener Kraft sei der große Umschwung nicht zu schaffen, oder erst zu spät. „Ich bin schon 45“, sagt sie leise. Ihre beiden jüngeren Kolleginnen schütteln den Kopf. Sie wollen keine Vereinigung, sie wollen nur eines: weg von hier, weg von Mölbis so bald wie möglich, schnell weg!

Pfarrer Dallman hat Verständnis für die Fluchtgedanken der Jungen. Aber die Alten? Kann man sie noch verpflanzen? Er hat Angst, daß gerade sie die Umsiedlung nicht mehr verkraften und „einige Jahre eher ins Grab gehen“. So steckt er also in der Zwickmühle und weiß nicht, wo er in dem Streit zwischen Gift und Heimatverlust seinen Platz hat. Aber da ist ja sein Traum, und er will einfach nicht glauben, daß sich dieser Traum nicht realisieren läßt. „Macht Wandlitz zu Mölbis, macht Mölbis zu Wandlitz.“ Bisher war dies nur eine Parole gegen die verhaßte SED. Doch für Dallmann hat der zweite Teil dieses Spruchs eine magische Anziehung. Für diese Vision will er kämpfen: Mölbis - das Vorzeigedorf der DDR.