Ein Jahr Kinderschutzambulanzen: Kindeswohl gefährdet

Fachleute untersuchten im ersten Jahr 366 Kinder, die möglicherweise misshandelt oder vernachlässigt wurden. Jeder dritte Verdacht bestätigte sich.

Im Wartezimmer: In Hannover gibt es eine Kinderschutzambulanz bereits seit 2011 Foto: dpa

Dem Lehrer fällt auf, dass der achtjährige Ben immer wieder Verletzungen an den Armen hat. Er weiß von Problemen bei Ben zu Hause. Wird der Junge etwa misshandelt? Der Lehrer ist unsicher und berichtet schließlich dem Jugendamt von seinem Verdacht. Die zuständige Sozialarbeiterin kennt Ben bereits, die Eltern leben getrennt, es gibt Streit um das Sorgerecht. Im Gespräch sagt die Mutter, der Kindsvater schlage den Jungen an den Wochenenden, an denen er ihn sehe. Aber stimmt das?

Ben gibt es so nicht, seine Geschichte ist stark verfremdet. Mit vergleichbaren Fällen hat man es in den Jugendämtern, in Praxen, Kliniken, Schulen oder Kitas allerdings immer wieder zu tun. Damit einem Verdacht auf Kindeswohlgefährdung schnell nachgegangen wird, richtete Berlin im April 2016 fünf Kinderschutzambulanzen ein. In Kliniken in Neukölln, Mitte, Westend, Buch und Tempelhof begutachten seitdem Fachleute Betroffene und schätzen die Situation der Familien ein. Der Bedarf ist da: Im ersten Jahr wurden insgesamt 366 Kinder und Jugendliche wegen des Verdachts auf Kindeswohlgefährdung vorgestellt, so die Bilanz – also im Schnitt ein Fall pro Tag.

Körperlich misshandelt?

„Wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass immer wieder schlimme Kinderschutzfälle bis hin zum Tod geschehen“, sagte Jugendsenatorin Sandra Scheeres (SPD) bei der Pressekonferenz am Montag. Deshalb sei es wichtig, schnell zu klären, ob an einem Verdacht etwas dran sei. Vor allem die Jugendämter, aber auch Kinderärzte haben das Angebot der Gewaltschutzambulanzen im ersten Jahr genutzt. Bei über der Hälfte der Überweisungen wurden körperliche Misshandlungen vermutet, bei 18 Prozent der Fälle gab es einen Verdacht auf sexualisierte Gewalt.

In den Kinderschutzambulanzen werden die Jungen und Mädchen von Fachärzten untersucht, auch Psychologen oder Psychiater kommen häufig dazu. Wenn nötig, können Rechtsmedizinerinnen der ebenfalls beteiligten Berliner Gewaltschutzambulanz Spuren so sichern, dass man sie auch vor Gericht verwenden kann.

Das Risiko einer Kindeswohlgefährdung sei dann besonders hoch, wenn es in einer Familie viel Stress gebe, berichtete Sylvester von Bismarck, Leitender Oberarzt im Vivantes-Klinikum Neukölln. Dazu gehöre fehlendes Geld, Arbeitslosigkeit oder auch Suchterkrankungen. „Wir schauen, wie viel Ressourcen eine Familie hat, wie der Kontakt zwischen Eltern und Kind ist.“

Die Statistik der fünf Ambulanzen zeigt, dass insgesamt etwas mehr Mädchen versorgt wurden als Jungen. Den MitarbeiterInnen der DRK Kliniken in Westend fiel noch etwas auf: Rund ein Viertel ihrer Patienten wies eine chronische Behinderung auf. Bei diesen Mädchen und Jungen bestehe offenbar ein höheres Risiko, Opfer von Misshandlung oder Vernachlässigung zu werden, so eine Sprecherin. Viele der Patienten hätten zudem massive Probleme mit den Zähnen.

Am Ende der Untersuchungen geben die MitarbeiterInnen der Kinderschutzambulanz eine Einschätzung ab. Bei knapp jedem dritten Kind bestätigte sich im ersten Jahr der Verdacht auf eine Kindeswohlgefährdung, so Scheeres. In diesen Fällen muss das Jugendamt eingreifen. Wenn Erziehungshilfen nicht ausreichen, die Kinder zu schützen, kann das Amt sie in Obhut nehmen – also aus der Familie holen und in Heimen, Pflegefamilien oder betreuten WGs unterbringen.

Oft ist die Lage in den Familien nicht eindeutig: Verletzungen können auch von Unfällen herrühren, die Aussagen der Beteiligten widersprechen sich. In knapp der Hälfte der Fälle kamen die Fachleute der Ambulanzen denn auch nicht zu einem klaren Ergebnis. Handlungsempfehlungen für die Jugendämter können sie trotzdem geben, etwa dass die elterliche Erziehungsfähigkeit überprüft werden muss oder eine bestimmte Therapie sinnvoll wäre.

Große Erleichterung

Doch es gab auch erfreuliche Wendungen: In 23 Prozent der Fälle konnten die MitarbeiterInnen der Ambulanzen eine Kindeswohlgefährdung ausschließen. Auch das ist eine wichtige Erkenntnis: Der Verdacht, das eigene Kind zu vernachlässigen oder zu misshandeln, wiegt schwer. Wird er ausgeräumt, kann das für die Eltern sehr entlastend sein.

Der Senat zahlt für die Kinderschutzambulanzen rund eine halbe Million Euro pro Jahr. Sie sind Teil des 2007 beschlossenen Netzwerks Kinderschutz. Ein Jahr zuvor hatte der Tod des zweijährigen Kevin in Bremen bundesweit für Entsetzen gesorgt. Das Jugendamt hatte die Vormundschaft übernommen, trotzdem lebte der Junge weiter beim gewalttätigen Ziehvater, der das Kind schwer misshandelte. Auch in Berlin versuchte man daraufhin, die Koordination zwischen den verschiedenen Stellen zu verbessern. Scheeres sagte: „Mit den Kinderschutzambulanzen wurde eine wesentliche Lücke im Netzwerk geschlossen.“

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.