Eine Nacht bei Occupy in Kiel: Diskutieren statt schlafen

Die Zahl der Zelte zwischen Banken und Rathaus wächst. Bei den nächtlichen Diskussionen an der Feuertonne kreuzen auch Verbindungsstudenten auf, doch die Toleranz der Occupy-Bewegung hat Grenzen: Drogen sind in Kiel nicht zugelassen.

Der protzige Turm des Kieler Rathauses wird nur bis 22 Uhr angestrahlt, doch im Protestcamp denkt niemand ans Schlafengehen. Bild: Alexander Kohn

KIEL taz | "Was macht ihr hier und habt ihr Tabak", fragt ein junger Mann mit Kunstblut im Gesicht, es ist kurz nach Mitternacht, und bald ist Halloween. "Gerade sprechen wir über Rettungsschirme", antwortet eine Frau und wirft Holz in die prasselnde Feuertonne. Rundherum stehen etwa 20 Menschen, der junge Mann sagt, dass ihn das auch beschäftigt. Er braucht zehn Minuten, um seine Kippe zu drehen. Daneben tanzt ein Lichtkegel suchend durch ein gelbes Zelt, ein Auto mit lauter Elektromusik fährt vorbei.

Vor einem Transparent an einem der 16 Zelte im "Bermudadreieck" zwischen Sparkasse, Deutscher Bank und HSH Nordbank stehen ein Vampir und eine Wasserleiche. Martin, der seit acht Tagen hier zeltet, drückt ihnen einen Flyer in die Hand. "Occupy Kiel Manifest", lesen sie. "Wir sind die 99 % und wir werden nicht länger schweigen." Es ist eine Einladung, sich gegen die "negativen Auswirkungen unseres Wirtschafts- und Finanzsystems" und für "unsere Zukunft" sowie die "Zukunft unserer Erde" zu engagieren.

"Je länger wir durchhalten", sagt Camper Martin, "desto mehr Menschen erreichen wir." Nach einer Kundgebung am Samstag vor einer Woche habe er mit drei Leuten hier am Ufer des Sees, gegenüber vom Rathaus, die ersten Zelte aufgebaut. Vier Tage später, sagt der Bio- und Informatik-Student, seien sie immer noch nur zu viert gewesen.

Doch nach einer Aktion am Mittwoch im nahen Szenetreff Pumpe sei das Camp "explodiert". Der Effekt von Demos verpuffe sehr schnell, während das Camp täglich mehr Menschen anziehe: "Wenn wir allen das Gefühl geben, etwas ändern zu können, dann können wir wirklich etwas bewegen."

Auf einer gespendeten Couch neben Martin sitzt Enno, der extra aus Husum gekommen ist: "Je mehr Menschen sich mit Wirtschaft auseinander setzen, desto fundierter werden die Diskussionen hier." Dann könnten auch konkretere Forderungen erarbeitet werden. Daneben nickt ein Student, der erzählt, dass er bei einigen Arbeitskollegen als "Spinner" gelte, weil er öfters im Protestcamp sei.

Er pfeift eine Melodie der Beatles und zieht einen Fünf Euro-Schein aus der Tasche, mit einem Kuli schreibt er darauf: "Cant buy me love…" Grinsend hebt er einen gefalteten Zehn Euro-Schein vom Boden auf, eine weiße Rückseite wird sichtbar. "Da bückt sich in der Fußgängerzone jeder nach und liest eure Botschaft", erklärt er die Aktion.

Beschlüsse fassen die Camper in einem Doppel-Pavillon. Fast 20 Menschen waren heute Abend in der "Asamblea", wie sich das Plenum nach dem Vorbild der spanischen Demokratiebewegung nennt. Man diskutierte, wie sich aus Yoghurt-Bechern Rasseln basteln lassen und ob Ramba Zamba-machen mehr bringt oder schadet.

"Wir sind ein bunt gewürfelter Haufen, Studenten und Arbeitslose kommen hier zusammen", sagt Camper Josch, dessen Hündin sich unterm Schlafsack im Zelt verkriecht. "No drugs", steht auf einem Schild daneben. "Wir besaufen uns hier auch nicht", sagt Josch, das würde die Unterstützung untergraben.

Im Unterschied zum Frankfurter Occupy-Camp ist das Camp in Kiel nicht offen für Junkies. Das habe das Plenum beschlossen, berichtet Josch, der im Umland von Kiel eine Schlosserlehre macht.

Josch erzählt von älteren Leuten, die täglich vorbeikämen und Feuerholz, Kuchen oder Decken bringen würden. Auch die Doppel-Pavillons, in denen sich das Plenum trifft, sind gespendet worden. Die Spenderin hat ihn noch vor Ort mit dem Schriftzug "99 %" besprayt.

Wie in den anderen Occupy-Camps wollen auch die Kieler keine Parteien oder Organisationen im Camp haben. Um drei Uhr nachts, in den Zelten schläft noch niemand, eine Gitarre macht die Runde, sitzt ein junger Mann im Kreis, der sich als Mitglied einer schlagenden Verbindung geoutet hat. "Keine rechte Soße", sagt ein Alt-68er mit gelber Windjacke. Doch die Diskussion bleibt sachlich.

Auch drei Aktivisten, die dem umstrittenen "The Zeitgeist Movement" nahe stehen, sitzen auf den Plastikstühlen. Auf der Homepage der Bewegung heißt es: "Wissenschaft und Technik sind aktive Göttlichkeit und eine genauere Annäherung an die Art, wie die Welt wirklich funktioniert."

Sie seien keine Sekte, verteidigen sich die drei gegen die Kritik auch von Seiten der taz. Die Bewegung arbeite auf das Ideal einer Gesellschaft hin, in der Kooperation zentral sei, "und nicht wie heute die Konkurrenz".

Kurz vor fünf schauen einige verträumt aufs Wasser, andere diskutieren weiter. Lena ist seit einigen Nächten hier und geht morgens in die Uni. Sie hofft, dass Occupy sich noch lange an dem kleinen See gegenüber vom Rathaus halten kann.

Einige Mädels kommen bibbernd von einer Party zurück und wärmen sich an der Feuertonne. Als ihr Taxi kommt, sagen sie: "Viel Erfolg und erfriert uns nicht." Die Camper haben schon darüber diskutiert, was sie machen sollen, wenn es kälter wird. Am besten wären vielleicht Zelte aus Militär-Outlets. Doch das würde im Plenum nicht durchkommen, sagt einer der Camper. Schließlich seien sie Pazifisten.

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