Erich Hackls Roman „Am Seil“: Held ist nur, wer den Schwachen hilft

Der Österreicher Erich Hackl legt poetische und präzise Geschichtsprosa vor. In „Am Seil“ werden NS-Gräuel mit Mut und Menschenkenntnis besiegt.

Ein Ausschnitt vom Cover des Romans „Am Seil“

„Am Seil“ kreist im Kern um die Frage, warum gerade Reinhold Duschka zum Held wurde Foto: dpa

Im Grunde verstört schon die Genrebezeichnung. Was der 1954 im oberösterreichischen Steyr geborene Erich Hackl in seinem neuen Buch „Am Seil“ erzählt, soll eine „Heldengeschichte“ sein. Kaum ein Begriff erscheint nach den großen Brüchen in der europäischen Geschichte des 20. Jahrhunderts so fragwürdig wie die Bezeichnung eines Menschen als Helden. Zu oft wurden Mörder als Kriegshelden gefeiert, zu oft ließen sich Diktatoren einen Heldenstatus andichten, und auch heute lassen sich Großsprecher auf der politischen Bühne schnell mal feiern, als hätten sie Heldenhaftes geleistet.

Aus den Schriften der Antike kennen wir noch den Heros, der, wie es in einem Lexikon des 18. Jahrhunderts heißt, „von Natur mit einer ansehnlichen Gestalt und ausnehmender Leibesstärcke begabet, durch tapfere Thaten Ruhm erlanget, und sich über den gemeinen Stand derer Menschen erhoben“. Auch weil aus dieser gewaltromantischen Idee eine blutrünstige Ideologie erwuchs, ist mit dem ganzen Heldengerede heute nichts mehr anzufangen. Jetzt aber kommt Hackl. Und erzählt tatsächlich eine Heldengeschichte. Weil es sie eben doch gegeben hat, und zwar im selbstlosen Widerstand gegen den Terror, und weil es sie vielleicht auch heute noch geben kann.

Hackls Heldengeschichte ist eine literarische Verneigung vor einem Mann, den es wirklich gegeben hat, nämlich Reinhold Duschka, einem Kunsthandwerker und begeisterten Bergsteiger, der in Wien zu Zeiten der Naziherrschaft zwei Jüdinnen das Leben gerettet hat. Dabei musste der Schriftsteller gar nicht lange nach dem Stoff suchen. Denn die Geschichte war und ist seit einigen Jahren bekannt, wie nämlich Regina Steinig und ihre Tochter Lucia von ebenjenem etwas verschrobenen und aufrichtigen Duschka in seiner Werkstatt vier Jahre lang vor den braunen Schergen versteckt wurde, wie er sie mit Lebensmitteln versorgt, wie er sich um das Kind kümmerte und wie er nie ein Wort über seinen Mut verlor, weder vor noch nach 1945.

Es gab das Wiener und später in vielen europäischen Städten aufgeführte Theaterprojekt „Die letzten Zeugen“, in dessen Rahmen die Geschichte erzählt wird, es gibt Fernsehbeiträge und zahlreiche Videos im Netz, in denen die hochbetagte Lucia ihre Rettung erzählt – aber was Erich Hackl daraus macht, ist dennoch so außergewöhnlich und eigenständig, dass man bei der Lektüre zuweilen die Luft anhält, als stünde man tatsächlich auf einem Grat und schaute in den Abgrund, als wäre man nur gesichert durch Seil und Seilschaft.

Bildstarke und anschauliche Szenen

Hackls literarisches Verfahren besteht darin, berührende Biografien in eine so präzise wie poetische Geschichtsprosa zu überführen. Kein Wort zu viel erlaubt sich der Erzähler, auf Sprachspielereien verzichtet er, und gerade deshalb sind die Szenen bildstark und anschaulich. Er wechselt übergangslos vom Ich zum Wir und dann in die dritte Person. Passagen im Konjunktiv sind strikt von denen im Indikativ zu unterscheiden.

Der Dichter bleibt penibler Chronist. Wenn er eine historische Leerstelle füllt, wird die Fiktionalisierung angesprochen. Diese Redlichkeit gehört zum literarischen Konzept, das Auskunft gibt über die Bedingungen des puristischen Erzählens. Manchmal verzichtet Hackl gar auf Verben: „Wunde, die sich lange nicht schloss.“ Damit ist alles gesagt. Berühmt geworden ist Hackl mit diesem in der deutschsprachigen Literatur einmaligen Stil. Die Erzählungen „Auroras Anlaß“ und „Abschied von Sidonie“ waren Welterfolge, Hackls Werke gehören seit vielen Jahren zum Schulbuch-Kanon.

Als Juden überleben zu wollen, war im NS-Regime lebensgefährlich, und zwar auch für die Helfer der Juden

„Am Seil“ kreist im Kern um die Frage, warum gerade Reinhold Duschka zum Held wurde und was wir aus seiner Geschichte lernen können in Zeiten, in denen Menschen wieder Angst haben müssen vor dem rechtsradikalen Mob. Der Mann war weder ein politisch bewegter Zeitgenosse noch ein Heiliger. Er verführte Frauen und ließ sie ohne Erklärung sitzen.

Er war diszipliniert, aber nicht autoritär. Er war ein maulfauler Eigenbrötler, ein Angeber allerdings nicht. Er besaß wohl gute Menschenkenntnis. Alles Eigenschaften, ohne die er aufgeflogen wäre. Beim Klettern in den Bergen schien er sich wohlzufühlen. Oft war er am Seil mit Rudi Kraus verbunden, dem Vater der kleinen Lucia. Bis der nach Australien ging. Was für Regina Steinig im richtigen Moment nicht in Frage kam. So blieben Mutter und Tochter in Wien, mussten bald zusehen, wie die Juden in der Nachbarschaft deportiert werden.

Das Risiko, doch aufzufliegen

Als Juden überleben zu wollen, war im NS-Regime lebensgefährlich, und zwar auch für die Helfer der Juden. In der Freundschaft von Rudi und Reinhold lässt sich vielleicht ein Motiv für Duschkas Mut finden, Regina und Lucia zu verstecken. Möglicherweise hat der Bergsteiger aber auch nur das im prekären Alltag angewendet, was für ihn in höchsten Höhen selbstverständlich war: Der eine steht für den anderen ein. „Beide galten als verlässlich. Klettern in einer Seilschaft bedeutete ihnen deshalb so viel, weil es Vertrauen und Verantwortung erforderte.“

Was für Duschka schließlich den Ausschlag gab, zwei Menschen vor dem sicheren Tod zu bewahren und damit das eigene Leben zu riskieren, lässt der Text bewusst offen. Er war offenbar überzeugt, das Richtige zu tun. Er ging ein hohes Risiko ein, doch aufzufliegen, wenn er Nahrung und Klamotten nicht nur für sich organisierte.

Und nicht nur das, er schenkte seinen Schützlingen, die in der Werkstatt helfen durften, zudem ein gutes Gefühl: „Die Arbeit gab ihnen Halt, lenkte sie ab, bot ihnen Gelegenheit, sich für Reinholds Wagemut erkenntlich zu zeigen. Für Lucia bedeutete sie Zerstreuung und Versenkung zugleich, eine Art Geborgenheit, und das war vor allem sein Verdienst.“ Denn er band Mutter und Tochter ein in den „gesamten Herstellungsprozess“, gab „Ratschläge, keine Befehle“.

Erich Hackl: „Am Seil. Eine Helden­geschichte“. Diogenes Verlag, ­Zürich 2018, 117 Seiten, 20 Euro

Wie Hackl auf den gerade mal 117 Seiten nicht nur die Geschichte Duschkas und die seiner Anvertrauten erzählt, sondern nahezu nebenbei auch das Leben von vermeintlichen Nebenfiguren, beweist die große Meisterschaft des Autors. Vor allem wenn es um Regina Steinigs „rätselhafte Abhängigkeit“ von einem treulosen Typen namens Fritz Hildebrandt ging, dem sie die Treue hielt, obwohl der „es fertiggebracht hat, Regina noch im Altersheim mit einer anderen Frau zu betrügen“. Im Rückblick auf das Leben der Geretteten nach der NS-Zeit gestattet sich Hackl also auch mal einen Anflug von Humor, und so zeigt er in wenigen Sätzen, dass er alle Tonlagen beherrscht.

So beeindruckt „Am Seil“ nicht nur mit literarischer Finesse, sondern räumt auch auf mit einer Heroen-Tradition, die noch immer ins Unglück geführt hat. Held ist heute nur, wer den Schwachen hilft. Heldentum und Narzissmus schließen sich aus. Und: Es gibt keine Anleitung für Heldentaten. Warum aber nicht ein Beispiel nehmen an einem Helden wie Reinhold Duschka, der sich gegen Ehrungen jahrzehntelang gewehrt und erst als Neunzigjähriger von der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem als „Gerechter unter den Völkern“ ausgezeichnet wurde?

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