Ernährung im Social Web: Schlemmen im Stream

Eine Streamingseite bietet an, Leuten beim Essen zuzuschauen. Wird der Trend aus Südkorea bald auch hierzulande ein Riesending?

Ein Grill mit vielen Stücken Fleisch darauf

Social eating: Wären die Essenden im Bild, ginge das schon durch Foto: imago/Westend61

Wenn Menschen anderen Menschen rituell beim Essen zusehen, denkt man wohl zuerst an Südkorea. Dort lassen sich, häufig sehr schöne Menschen dafür bezahlen, unanständige Mengen an Essen zu verschlingen, während andere dabei zugucken. In Südkorea nennt man dieses Ritual muk-bang. Das Prinzip gibt es nun auch als US-amerikanischen Livestream. Auch wenn der Anbieter Twitch.tv vorgibt, etwas völlig anderes im Sinn zu haben.

Twitch.tv ist eine Livestream-Plattform mit etwa hundert Millionen Usern. Der gigantische Großteil der gestreamten Videos ist von Leuten, die Computerspiele durchspielen. So wie Südkoreaner sich das hemmungslose Fressen verkneifen und stattdessen anderen dabei zusehen, schauen sich US-amerikanische Kids stundenlang semi-professionelle Gamer an, wie sie Spiele durchzocken, anstatt selbst Stunden mit dem Spielen von Computerspielen zu verschwenden.

Vor einiger Zeit hat Twitch eine neue Rubrik eingeführt: „Twitch's Creative“. Hier hält Twitch seine User an, Essen zuzubereiten und über Rezepte zu diskutieren. Alles zu machen außer selbst zu essen also. Mit der neuen Rubrik „Social Eating“, die nun Anfang Juli vorgestellt wurde, ist diese Lücke geschlossen worden.

Essen, nichts als essen

Hier geht es um nichts anderes als ums Essen. Es darf und soll gegessen werden, was gegessen werden kann. Zumindest das, was von Menschen gegessen werden kann – Tiernahrung ist verboten. Ebenso Essen, das zum Erbrechen führt. Man darf niemanden füttern – auch keine Babys oder Tiere. Man darf nicht saufen, wettessen, im fahrenden Auto oder nur Junkfood essen.

Es geht laut der Aussage von Twitch um das soziale Interagieren beim Essen. Harmlos, unschuldig und, nun ja, sozial. Die Essenden sollen nämlich durchgehend mit den Zuschauern interagieren. Das bedeutet: auf die Chatnachrichten reagieren, die im nie endenden Strom hereinfließen.

Das südkoreanische muk-bang erinnert im Gegensatz dazu eher an Fetisch-Pornographie, will aber natürlich auch etwas anderes sein. Tatsächlich steht Sexuelles dabei nicht im Vordergrund. Es sind eher andere animalische Gelüste, die hier befriedigt werden – zum Beispiel das Verlangen, alles in sich hineinzustopfen, was irgendwie greifbar ist.

Weil aber das Schönheitsideal des festen Fleisches auch in Südkorea herrscht, müssen die Leute dort Surrogaten bezahlen, um durch sie den Genuss erahnen zu können, den hemmungslose Schlemmerei erzeugt. Wenn es dabei eklig wird, ist das eine Spielart des südkoreanischen Trends.

Lüsternheit von sexistischen Halbstarken

Bei Twitch soll es manierlich zugehen. Nichts, was andere als anstößig empfinden könnten, soll hier Platz finden. Schaut man sich ein paar Minuten lang Gorgeous_Gamer an, eine junge Frau mit kurzen Haaren, deren Pony glatt ins Gesicht gestreift ist und sie ein wenig aussehen lässt wie Bill Kaulitz in seinen schlimmsten Tokyo Hotel Zeiten, wundert man sich dann aber. Warum schauen bis zu 6000 Leute wohl einer jungen Frau dabei zu, wie sie übertrieben lange eine Orange schält? Die Antwort findet sich recht bald. Und sie widerspricht dem vorgeblichen Anspruch von Twitch.

Gorgeous_Gamer bezeichnet sich selbst im Stream als „number one social streamer on Social Eating“ und lutscht dabei suggestiv eine Cocktailtomate. Die User-Kommentare erklären dann auch alles weitere. „Ur so Hawt“ [sic!] schreibt zum Beispiel smkindodi6. Fugori schreibt „can you show your hips closer[?]“

Gorgeous_Gamer ignoriert das, freut sich aber euphorisch über den Vorschlag eines Zuschauers, sie solle doch mal eine Zitrone essen. „Mittwoch werde ich eine Zitrone essen! Oh mein Gott, das ist so eine gute Idee! Wow, ich danke dir tausend Mal! So ein gute Idee!“ quietscht sie in die Webcam, während sie sich ein Stück Orange in den Mund schiebt.

Aber auch jenseits der Lüsternheit von sexistischen Halbstarken, die sich überall da tummeln, wo es im Internet junge Frauen in Bewegtbildern zu sehen gibt, hat das Konzept etwas zu bieten. Denn wer kennt sie nicht, diese dunklen Stunden?

Overeating einfach outsourcen

Wenn die Arbeit hart war, der Hunger groß ist und nur von der eigenen Faulheit übertroffen wird. Die Stunden, in denen man sein Dinner aus Instant-Nudeln vor dem blauen Leuchten des PC-Bildschirms genießt. Wenn da aber dann eine Person auf einen wartet, die appetitlich isst, die mit einem redet und auf Nachrichten reagiert, dann fühlt man sich nur halb so einsam, verloren und schmutzig. Der PC wird durch Social Eating zum Ersatz für Gesellschaft. Das mag traurig anmuten – aber wäre völlige Einsamkeit nicht noch trauriger?

Außerdem ist es sicherlich auch in Zeiten von immer dicker werdenden Menschen nicht verkehrt, wenn man das Overeating und Dickwerden einfach outsourcet. Heute schon müssen nicht alle Menschen Atomkatastrophen bekämpfen, in den Weltraum fliegen oder auf Bohrinseln ackern. Diese besonders gesundheitsgefährdenden Jobs machen nur die, die extra dafür bezahlt werden.

Wenn sich Menschen also dafür bezahlen lassen möchten, dass sie sich selbst mästen, damit es nicht alle tun, wird die Quote an Übergewichtigen sicher sinken. Uns kostet das nicht – die Bezahlung besteht in diesem Fall aus zweifelhaftem Internetruhm.

Laut Twitch stammte der Wunsch nach dem Social-Eating-Kanal auch von südkoreanischen Nutzern, bei denen „content über das Verzehren von Nahrung ein bedeutender Teil der Kultur ist und etwas, was viele von ihnen verlangt oder versucht haben, in ihre Streams einzubauen“, wie es bei Twitch heißt. So überrascht es auch nicht, dass die Hintergrundmusik in Gorgeous_Gamers Stream nervig hochgepitchte koreanische Popmusik ist.

Dass es bei Twitch nicht „muk-bang“ heißt, sondern „Social Eating“, kann man da leicht übersehen. Und nach der selbstreinigenden Toilette, dem Gangnam-Style und Kimchi erwartet uns bald womöglich der nächste Hit aus Südkorea. Ein Hit für die ganze Gesellschaft.

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