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Esra Küçük im Interview An die Wurzel der Probleme

Esra Küçük, Geschäftsführerin der Allianz Foundation, im taz FUTURZWEI-Gespräch: Wie kriegt man Klima und Kultur produktiv zusammen?

»Ich unterscheide zwischen Schönheit und Ästhetik«: Esra Küçük in Berlin Marzena Skubatz

taz FUTURZWEI: Unsere Ausgabe hat den Titel: Die Welt muss wieder schön werden. Was können Sie mit diesem Satz anfangen, Frau Küçük?

Esra Küçük: Viel! Ich habe das Riesenprivileg, von Menschen umgeben zu sein, die jeden Tag arbeiten, um die Welt schöner zu machen. Im Sinne von besser, im Sinne von gerechter, im Sinne von sozial durchlässiger. Gefühlt häufen sich die Krisen. Aber das Schöne ist, dass es da draußen Menschen mit extrem viel Potenzial gibt, die den aktuellen Herausforderungen mit kreativen Lösungen begegnen. Viel von dem, was ich tun darf, ist mit der Frage verbunden, wie man diese Menschen stärken kann.

Schönheit ist eine eigentümliche Kategorie. Trotzdem ist die Erfahrung von Schönheit etwas, das Menschen motiviert oder eine Basis legt, die Welt schön haben zu wollen. Die Erfahrung eines gut gestalteten Platzes oder eines fantastischen Gebäudes gibt einem einen Begriff von Schönheit. Die sozialökologische Transformation erzählt meist entweder über Verzicht oder über Wohlstandsbewahrung. Doch ohne den Begriff der Schönheit, das wäre die These, kommen wir nicht klar. Oder wie sehen Sie das?

Ich sehe das ähnlich. Der kritische Blick auf den gesellschaftlichen Begriff von Schönheit ist dabei allerdings die Voraussetzung. Es geht mir nicht um ein elitäres Verständnis von den schönen Dingen. So verhält es sich auch mit meinem Verständnis von Kunstförderung. Ich betrachte sie als Feld der Auseinandersetzung mit ästhetischen Phänomenen. Als Verteidigung der Freiheit des Ausdrucks. Die Künste machen diesen Freiraum für Auseinandersetzung zeitlich, räumlich und physisch konkret und erfahrbar. Dabei muss sich Kulturförderung aber immer kritisch bewusst sein, dass die Künste innig verwoben sind mit den gesellschaftlichen Bedingungen ihrer Produktion, Rezeption und Diskussion. Wer ist beteiligt? Wer ist gemeint? Und in welchem Kontext sind sie zu betrachten?

Die Umgebung hat Einfluss darauf, wie Menschen sich verhalten?

Ja, denken Sie nur mal an das Phänomen, dass die Broken-Windows-Theorie beschreibt. In dem Moment, in dem wir kaputte Rahmenbedingungen dulden, entsteht viel mehr Dysfunktionalität. Das ist dann wie ein Dammbruch. Darum ärgere ich mich auch so darüber, wie es in vielen Schulen oder unseren öffentlichen Einrichtungen mancherorts aussieht. Wenn ich lesen muss, dass der Berliner Senat die tägliche Reinigung in Schulen streichen möchte, dann weiß ich: Das sind die Dinge, durch die Kipppunkte entstehen.

ESRA KÜÇÜK

Die Frau: Leiterin der Stiftung Allianz Foundation, Sozialwissenschaftlerin.

Jahrgang 1983. Geboren und aufgewachsen in Hamburg, lebt in Berlin.

Die Stiftung: Die Allianz Foundation ist eine rechtsfähige Stiftung des bürgerlichen Rechts. Sie ist 2022 aus dem Zusammenschluss der Allianz Umweltstiftung und der Allianz Kulturstiftung hervorgegangen. Sitz ist Berlin. Ihr Zweck ist, bessere Lebensbedingungen für die gegenwärtigen und kommenden Generationen zu schaffen.

Was stellen Sie sich dagegen vor?

Rahmenbedingungen, die für Menschen gedacht sind, sollten auch auf ein wohltuendes, gesundes Lebensumfeld abzielen. Für mich geht es dabei auch um die Frage: Wie gehen wir mit unserer Umwelt um? Wie regt unsere Umgebung uns an, eine Gesellschaft zu sein, die wir auch sein wollen? Da spielt Ästhetik eine große Rolle. Das fängt doch damit an, mit guter Musik in den Tag zu starten und geht damit weiter, dass der Tag viel machbarer scheint, wenn wir uns in anregenden Räumen bewegen dürfen. Aber damit ich nicht falsch verstanden werde: Das heißt nicht, dass wir uns nur den schönen Dingen hingeben sollten. Ich unterscheide hier zwischen Schönheit und Ästhetik.

Der Unterschied zwischen Wohlgefallen und sinnhafter Schönheit?

Genau.

Frau Küçük, was haben Sie für einen biografischen Hintergrund?

Ich bin zur Schule gegangen in einem Ort, den man heute »sozialer Brennpunkt« nennen würde.

Wo war das?

Im Süden Hamburgs. Das war zu einer Zeit, als man noch der Meinung war, dass Gastarbeiter, die für Deutschland angeworben wurden, getrennt vom Rest der Gesellschaft untergebracht werden sollten.

Wenn man da aufwächst, hat man als Leiterin einer Stiftung einen Erfahrungshintergrund, den die meisten anderen nicht haben?

Erstmal ist LeiterIN ja schon was Besonderes. Wenn dann die soziale Aufstiegsfrage dazukommt, bewegen wir uns in einem ganz kleinen Kreis von Personen.

»WENN MAN DIE PARAMETER DER KULTURPRAXIS VERÄNDERN WILL, MUSS MAN DAMIT ANFANGEN, DINGE ZUSAMMENZUDENKEN, DIE BISHER NICHT ZUSAMMENGEDACHT WURDEN.«

Esra Küçük

Gerade für eine transformatorische Stiftungsarbeit müsste doch dieser breitere Erfahrungshintergrund wichtig sein?

Die Klaviatur ist mit Sicherheit breiter. Soziale Erfahrungen, kulturelle Codes und habituelle Alltagspraxis: Das macht ja einen Horizont aus. Wen denke ich mit und wen denke ich nicht mit? Davon kann sich ja keiner freimachen, auch nicht Menschen in Entscheidungspositionen: wie viel soziale und kulturelle Diversität sie mitbekommen haben. Und wie oft sie in ihrem Leben auch mal gezwungen waren, ihre eigene Blase zu verlassen und in einer anderen klarzukommen. Darum hängt in meinem Büro auch das Kunstwerk von Alfredo Jaar mit dem Titel Andere Menschen denken.

Wie sind Sie denn aus dem Süden von Hamburg in dieses Büro am Pariser Platz gekommen?

Ich habe Politikwissenschaft studiert und habe es durch Zufall geschafft, auf einer angesehenen Schule in Frankreich angenommen zu werden, einer sogenannten Grande École. Dort habe ich mich viel mit Fragen von Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit beschäftigt und habe auch erfahren, wie das System des Aufstiegs funktioniert: Wenn man einmal drinnen ist, ist es viel leichter, weiter nach »oben« zu kommen. Das Schwierigste ist das Reinkommen. Vor diesem Erfahrungshintergrund habe ich dann die Entscheidung getroffen, nicht in die Politik zu gehen, wie es der Studiengang vorgesehen hätte, sondern in den gemeinnützigen Sektor. Ich habe angefangen, für eine große Stiftung in Nordrhein-Westfalen zu arbeiten, als das Ruhrgebiet Kulturhauptstadt Europas war. Es ging damals auch darum, diese ehemaligen Industrieorte mit Kultur zu füllen und dabei gerade auch die Leute vor Ort einzubinden. Über diese Fragen, wie Kulturarbeit die Herzen der Menschen erreichen kann, bin ich dann später ans Berliner

Maxim-Gorki-Theater gekommen. Dort hatten wir den Anspruch, ein Theater für alle zu sein und nicht nur für ein tradiertes Theaterklientel.

Das, was Sie in Bezug auf Ihre Ausbildung so behutsam Zufall nennen: War das vielleicht Leistung?

Ich sage bewusst Zufall, weil es nicht strukturell vorbestimmt war. Strukturell lagen da eher viele Steine im Weg. Natürlich hat es auch was damit zu tun, dass man sich angestrengt hat und das dann jemand diese Anstrengung auch wahrgenommen hat.

Dass man sich angestrengt hat, ist auch eine schöne Formulierung, um das Ich zu umgehen!

Na gut, dass ich mich angestrengt habe! Mir geht es um etwas anderes: Wenn man mit so einem Rucksack in diesem Land groß wird, dass man mehrere Zugehörigkeiten mitbringt und auf deren Stereotype angesprochen oder reduziert wird, dann gibt es unterschiedliche Wege, für die man sich entscheiden kann. In der Zusammenarbeit mit jungen Leuten in diesem Land habe ich oft erlebt, dass die ihre Stereotype performen. Wenn du immer als Rapper oder Gangster wahrgenommen wirst, dann wirst du dieses Klischee auch eher ausfüllen.

taz FUTURZWEI N°26

Die Welt muss wieder schön werden

Wer Ernst machen will, muss verstehen, warum wir nicht gegen die Klimakrise handeln, obwohl wir alles wissen: Ohne Kulturwandel kein Weltretten.

Wir machen Ernst III, Schwerpunkt: Kultur

Mit Annahita Esmailzadeh, Arno Frank, Esra Küçük, Ricarda Lang, Wolf Lotter, Nils Minkmar, Luisa Neubauer, Robert Pfaller, Eva von Redecker, Claudia Roth, Ramin Seyed-Emami und Harald Welzer.

taz FUTURZWEI N°26 hier bestellen

Und der andere Weg?

Davon getrieben zu sein, beweisen zu wollen, dass du den Klischees nicht entsprichst. Keiner der beiden Wege ist selbstbestimmt.

Sie haben für die Allianz Foundation zwei ursprünglich getrennte Stiftungen zusammengelegt, Umweltstiftung und Kulturstiftung. Wie wurde das überhaupt möglich?

Stiftungsrechtlich war es sehr komplex wegen der unterschiedlichen Stiftungszwecke. Stiftungen sind ja auf die Ewigkeit angelegt, das heißt, sie sind zu Recht vom Gesetzgeber geschützt. Unabhängig von der stiftungsrechtlichen Komponente ging es mir aber um etwas anderes: das überholte Silo-Denken der Stiftungsarbeit zu durchbrechen. Statt einer Kulturstiftung und einer Umweltstiftung gibt es jetzt die Allianz Foundation. Sie vereint die bisherigen Tätigkeitsfelder und setzt bei den Schnittpunkten an. Dabei steht auch der Kulturwandel im Mittelpunkt.

Sie haben über die Konzernstiftung gesagt: Gutes tun reicht nicht. Was heißt das?

Das ist der Gedankenwechsel in der Stiftungswelt von Charity hin zu Philanthropie. Charity bekämpft die Symptome von Problemen, wir wollen uns jetzt stärker mit der systemischen Frage beschäftigen, wir wollen an die Wurzel der Probleme. Sie können Armut oder Bildungsungerechtigkeit bekämpfen, indem Sie Einzelnen ein Stipendium geben. Oder Sie können gleichzeitig versuchen, die Systematik so zu verändern, dass der Bildungserfolg nicht sozioökonomisch determiniert wird.

Der Begriff Kulturwandel ist der Kern unseres Heftes, und der Kern Ihrer Stiftung. Sie haben in einem anderen Interview gesagt: »Jetzt ist Zeit zu handeln, und dafür braucht es einen Kulturwandel.« Sagen Sie bitte, was genau diesen Kulturwandel ausmacht, der in welchen Bereichen Dynamik bringt, damit Dinge, die bisher nicht vorangebracht werden, vorangebracht werden können?

Da muss ich Erwartungsmanagement betreiben. Wir haben nicht die eine Antwort: So sieht der Kulturwandel aus. Doppelpunkt, drei Sätze. Es ist eine Reise, auf die wir zusammen gehen. Aber da draußen sind viele Menschen, die schon zeigen, wie es geht. Diese Menschen, Netzwerke und Organisationen fördern wir. Und wenn bei einigen von diesen Ideen etwas rauskommt, das dann mit unserer Unterstützung groß ausgerollt werden kann, dann haben wir etwas erreicht.

»Ich bin zur Schule gegangen in einem Ort, den man heute sozialen Brennpunkt nennen würde«: Esra Küçük auf dem Balkon der Allianz Foundation in Berlin Marzena Skubatz

Es ist sicher zentral, diese Trennung von Kultur und Klima institutionell aufzuheben, aber das löst nicht das Problem, dass das beides im Lebensalltag getrennt ist? Wir haben keine Kultur der Nachhaltigkeit, sondern wir leben eine Kultur der Nicht-Nachhaltigkeit, wir haben keine Kultur des Zusammenhangs, sondern wir haben eine Kultur der Trennung. Deshalb ist die zentrale Frage: Wie verändern wir das Kulturmodell, auf dessen Grundlage wir leben?

Wenn man die Parameter der Kulturpraxis verändern will, muss man damit anfangen, Dinge zusammenzudenken, die wir bisher nicht zusammengedacht haben. Das tun wir mit unserer Stiftung. Wir realisieren ja allmählich, dass praktisch alles politisch ist. Die Dinge, die ich konsumiere, die Art, wie ich mich fortbewege, die Entscheidungen, die ich treffe, wem ich Aufmerksamkeit schenke oder Zeit widme. Das verleitet natürlich dazu, die Verantwortung des Einzelnen in den Vordergrund zu stellen. Das halte ich für keine fruchtbare Debatte. Wir sollten wegkommen von diesem personenbezogenen »Blaming« und stattdessen erkennen, dass wir die Rahmensetzungen grundsätzlich verändern müssen und das auch können.

Wie wirkt sich die neue Allianz von Klima und Kultur stiftungskonzeptionell und konkret aus?

Das Blasensprengende ist jetzt die DNA der neuen Allianz Foundation. Wir wollen Akteure aus Kunst und Kultur zusammenbringen mit Menschen, die am Einbremsen des Klimawandels arbeiten. Wir bieten eine Förderstruktur an, die es incentiviert, dass Menschen zusammenkommen, die sonst vielleicht nicht zusammenkommen würden.

Was für unterschiedliche Gruppen sind das?

Das Zentrale ist: Es gibt keine Denkverbote. Alle Kooperationen sind denkbar und willkommen. Eine Bibliothek, die sich mit Landwirten zusammentut, ein Gletscherforscher und ein Blasorchester oder, um ein aktuelles Beispiel zu nennen, unsere Stipendiatin Maja Göpel, die sich als Transformationsforscherin mit Schauspielerinnen und Filmemachern zusammengeschlossen hat, um in einer Art Roadshow ...

... mit dem Titel Wir können auch anders, angelehnt an die ARD-Dokuserie des Regisseurs Lars Jessen ...

… auf den Theaterbühnen dieser Republik zu zeigen, wie die Transformation vor Ort bereits gelingen kann. Und das ist ganz bewusst ein inklusives Projekt. Da sind vom Bürgermeister bis zum Bademeister alle eingebunden. Und für solche Allianzen braucht es Förderstrukturen.

»DAS BUZZWORD ›SOZIAL-ÖKOLOGISCH‹ IST DERZEIT IN ALLER MUNDE. DESHALB IST ES WICHTIG, GENAU DIE MODELLE ZU ENTWICKELN, DIE BEIDES MITEINANDER VERBINDEN.«

Esra Küçük

Gab es die nicht?

Im Förderbereich gibt es dabei oft Probleme: Wenn ich so einen Antrag an das BKM …

... die Beauftragte der Bundesregierung für Kunst und Medien ...

... schicke, dann sagen die, das ist nicht unser Bereich. Wenn ich diesen Antrag dem Landwirtschaftsministerium schicke, dann sagen die, für Bibliotheken sind wir nicht zuständig. Es geht darum, eine Landschaft aus Kooperationspartnern zu schaffen, die bisher aufgrund der Förderstrukturen so nicht zusammengekommen wäre. Das ist das eine. Das andere ist, dass wir insbesondere marginalisierten Stimmen eine Förderstruktur anbieten und ihnen damit Gehör und Sichtbarkeit verschaffen. So unterstützen wir Menschen, die sich engagieren und dabei oft selber in Probleme geraten – in ihrem Einsatz für Kunstfreiheit, Meinungsfreiheit, für eine demokratische Struktur.

Sie nennen die Leute »Risktaker« . Worin besteht das Risiko?

Risktaker sind Menschen und Organisationen, die für eine lebenswertere Welt Wagnisse eingehen. Ihr Einsatz gilt offenen, diversen und klimagerechten Gesellschaften. Sie verlassen vorgezeichnete Pfade und tradierte Denkmuster, um neue Wege in eine nachhaltigere Zukunft zu erproben. Die Allianz Foundation unterstützt Risktaker aus der Zivilgesellschaft und Wissenschaft, aus Thinktanks, Kunst und Kultur oder Umweltbewegungen. Schließlich müssen die Freiräume für wirksames Engagement permanent erstritten werden – gerade angesichts des auch in Europa erstarkenden Nationalismus und Autoritarismus. Der Kampf für Klimaschutz und soziale Gerechtigkeit erfordert Mut, Überzeugungskraft und Allianzen. Alles steht im Dienst der Satzung unserer Stiftung:bessere Lebensbedingungen für die kommenden Generationen zu ermöglichen.

Wer ist das definitorisch genau, die nächste Generation?

Wir sagen: GenerationEN, und meinen damit auch die zukünftigen. Es geht um die Frage: Was ist eigentlich unsere Verantwortung, damit das Morgen schön sein kann? Welche Umwelt hinterlassen wir den nach uns Kommenden? Und um es nicht auf die Klimafrage zu reduzieren: Welche Möglichkeiten für den sozialen Aufstieg hinterlassen wir? Welche Formen des Zusammenlebens?

»Wir wollen weg von diesem personenbezogenen Blaming«: Esra Küçük am Haus der Kulturen der Welt, Berlin. Installation: raumlaborberlin, Pavillion im Rahmen von Shaped to the Measure of the People’s Songs, Haus der Kulturen der Welt (HKW), 2023 Marzena Skubatz

Damit kommen wir zur Frage des Zusammenhangs zwischen Kultur und Nachhaltigkeit: Es ist ja kein Dombau, keine Parkanlage, kein Platz in einer Stadt zu denken, der nur für die gegenwärtige Generation errichtet worden ist. Kaum ein Dombaumeister hat den fertigen Dom selbst erlebt. Und darin liegt ein tolles Prinzip, nämlich dass so etwas nicht an den individuellen Nutzen und die eigene Lebenszeit gebunden ist.

Ja! Es geht darum, den Solidargedanken zu erhalten und den Generationenvertrag zu erweitern. Beziehungsweise weiterzudenken. Nicht nur das materielle und finanzielle Erbe spielt dabei eine Rolle, sondern vor allem auch das natürliche. Was nützt es uns, wenn wir unsere Renten bekommen, aber keine schöne Welt zum Leben mehr haben? Und es geht im ersten Moment vielleicht weniger um aufbauen als um erhalten. In diesem Kontext nimmt Kultur dann die Rolle der erhaltenden Kraft ein. Durch Kultur können wir Nachhaltigkeit stärken und im wahrsten Sinne des Wortes kultivieren.

Bisher ist organisierte Solidarität im fossil finanzierten Sozialstaat auf die Bedürfnisse derer ausgerichtet, die jetzt leben.

Da muss man natürlich verhandeln zwischen ›Wem geht es heute schlecht?‹ und ›Wem geht es morgen schlecht, wenn ich heute nicht handele?‹. Ich finde es gut, wenn es uns gelingt, das nicht gegeneinander auszuhebeln. Da braucht es jetzt Beispiele, die müssen wir bekannt machen. Daran müssen wir anknüpfen. Das tun wir in unserer Stiftungsarbeit. Ich glaube, alle suchen danach, wie die ökologische Transformation mit der sozialen zu einer sozialökologischen verbunden werden kann. Das Buzzword ›sozialökologisch‹ ist derzeit in aller Munde. Deshalb ist es wichtig, genau die Modelle zu entwickeln, die beides miteinander verbinden.

Es gibt ja, etwa in der Bewirtschaftung von Wäldern, unterschiedliche Modelle, zum einen eine individuelle unternehmerische Praxis, zum anderen genossenschaftliche Organisationsformen. Zum Beispiel gibt es in einem österreichischen Weinort 40 Familien, die seit dem zwölften Jahrhundert einen Wald bewirtschaften. In diesem Prinzip darfst du den Wald eben nicht verbrauchen, sondern du musst ihn so weitergeben, dass die nächste Generation dieser 40 Familien auch daran partizipiert. Das ist am Ende eine kulturelle Praxis, die man nicht neu erfinden muss, sondern breit praktizieren.

Und genau das versuchen wir: Wir wollen den Kulturwandel zu einer dekarbonisierten und gleichzeitig fairen Gesellschaft befördern. Auf diesem Weg sehe ich aber viel mehr Hürden als auf dem Weg, der schon über Jahrzehnte eingeübt ist. Wie kriegen wir es hin, diese Hürden abzubauen und die tradierten Pfade zu verlassen? Und da sind wir wieder bei der Ausgabe Ihres Magazins: Wie kriegen wir das auch schön hin, damit das Spaß macht und nicht nur als Verzicht rüberkommt?

Interview: PETER UNFRIED und HARALD WELZER

Dieser Beitrag ist im September 2023 im Magazin taz FUTURZWEI N°26 erschienen.