Eurovision Song Contest in Tel Aviv: Die queere Familienshow schlechthin

Demonstrationen, Diversity und Madonna: das Finale des ESC hatte einiges zu bieten. Die wichtigsten Details im Rückblick.

Duncan Laurence und Netta Barzilai nach der Preisübergabe

Der Niederländer Duncan Laurence freute sich sichtlich über seinen Sieg Foto: dpa

Er wirkte nur auf den ersten Blick wie ein typischer Mittelschichtsschnulli: gute Manieren, kein g'schlamperter Look, obendrein eine freundliche Art, alles in allem also trieb-und gierkontrolliert.

Aber auf den zweiten Blick sah man mehr: In der Sekunde, in der der Niederländer Duncan Laurence erkannte, – und mit ihm taten dies Abermillionen – dass er den 64. Eurovision Song Contest in Tel Aviv gewonnen hatte, brach eine solch welpenhafte unverblümte, keineswegs triumphale Freude aus dem 25-Jährigen heraus, dass man ihm ihm nur huldigen konnte: Ja, der hat es doch wirklich verdient.

Der Mann ist einfach ein Nachwuchsjuwel im Entertainment. Er ist der erste hinter einem Klavier sitzende Mann beim ESC, der ohne einen einzige Tanzschritt auch noch gewinnt. Der letzte war Udo Jürgens 1966 mit „Merci Chérie“ – seine weitere Karriere sollte ihm für diese Schmalzigkeit beim ESC recht geben.

Duncan Laurence, der sich als „Europäer meiner Generation“ bezeichnet, sang „Arcade“, ein überkandideltes Stück Pop, um das ihn etablierte Kollegen nur beneiden können. Sein Land grölte, hieß es via Twitter, vor Freude. Letztmals gewannen die Niederlande, 1956 Gründungsmitglied des ESC-Festivals, vor 44 Jahren mit „Teach-In“, da waren selbst die Eltern von Duncan Laurence fast noch Kinder. Nächstes Jahr dann also vermutlich: Amsterdam.

Der glückliche Zweite

Der Italiener Mahmood (26), der eigentlich Alessandro Mahmoud heißt, sang den modernsten Song des Abends: eine Art Soft-Hip-Hop. Er tat dies mit viel hässlichem Gepäck auf den Schultern. Italiens Innenminister Matteo Salvini und viele aus seinem trüben Fahrwasser zweifelten an, ob der Sohn eines ägyptischen Vaters überhaupt so richtig Italiener sei. Er selbst sagt dazu: „Ich bin Italiener. Was denn sonst?“

„Soldi“ hieß Mahmoods Beitrag, eine sehr italienesk rhythmisch fließende Geschichte über die Würde des Menschen, die auch nicht beschädigt werden dürfe, wenn einer kein Geld hat. Es war auch ein Lied über einen unfähigen Vater und eine hilflose Mutter.

Mahmood, nun ja, hätte fast gewonnen. Er bekam von den Jurys Osteuropas so gut wie keinen Punkt. Die Länder, die mit Flüchtlingen nichts zu tun haben wollen – sie lehnten diesen Italiener ab. Gut, dass bei den Publikumswertungen auch ein wenig Zuspruch aus Russland und Ungarn kam. Dass er als Einziger an diesem Abend während der drei Minuten seiner Performance nicht einmal mit einem Lächeln um Gunst buhlte – das war dann doch weltklasse. „Soldi“ – der mediterrane Sommerhit, sehr vermutlich.

Die Vier-Stunden-Show

Falls je eine TV-Anstalt in der Vergangenheit, die mit der Ausrichtung eines ESC betraut war, einer inneren, subtil homophoben Strategie gefolgt ist, die 94 Prozent des Pubikums, die aus Männern bestehen und also mit allergrößter empirischer Dichte als schwul bezeichnet werden können, nicht zu zeigen: Israels TV-Gastgeber KAN hielt sich jedenfalls nicht daran.

Man sah in der vierstündigen Show das ganze politisch-kulturelle Wunschprogramm aller Kosmopolit*innen: einander huggende Männer, flamboyante Kerle, mit ihnen grölende Frauen, geschminkte Bärte und glitzerstaubdurchkomponierte Männergesichter, außerdem lesbische Paare, People of Colour in Mengen vor und hinter der Bühne – nur beispielsweise.

Eine TV-Show, wie sie facettenreicher nicht sein könnte: die queere Familienshow schlechthin. Alles war in der großen Überraschungstüte, was am Zappen hinderte: schon zum Auftakt sah man immer wieder Netta Barzilai, schöne Filmchen aus Israel mit tanzenden Menschen in interessanten Kulissen, ESC-Stars wie Verka Serduchka (mit einer Coverversion von Nettas „Toy“, ganz großes Kino!), Måns Zelmerlöw, Conchita Wurst (in einem furchterregenden No-Drag-Queen-Anymore-Look, eher Trümmerschluse als Diva), Eleni Foureira, Zweite voriges Jahr. Dann noch Gali Atari, Israels ESC-Siegerin von 1979 mit dem Lied „Hallelujah“, als im Nahen Osten noch alles auf Nachbarschaft und Frieden gewirkt schien.

Möglicherweise lässt sich in einer Feinanalyse noch mehr aus der Show destillieren, was bemerkenswert, aber nicht aufdringlich inszeniert war: Es hatte Glamour und nur ganz selten Länglichkeit. Aber zu dieser zählte sicher nicht der israelische Weltmusiker Idan Raichel und sein Klangprojekt: eine Session wie aus dem Diversity-Buch, sehr telegen.

Hatari und die Pfiffe

Wahrscheinlich sind sie ihren Peer Groups verpflichtet, sie mussten es tun: Als die isländischen Mitglieder der Gruppe Hatari freundlich um ein Wort zum Wohlergehen gefragt wurden, – immerhin hätten sie noch gewinnen können – rissen sie nur ihre BDSM-, also dystopisch gesinnten Sexkostüme auf und zeigte T-Shirts mit der Aufschrift: „Free Palestine“. Pfiffe aus dem Publikum– aber die Moderatorin aus dem Green Room des ESC überging die Demonstration der aus der Sicht der Isländer nötigen Moral freundlich.

Vor der Show demonstrierten an der ESC-Arena von Tel Aviv zwei Gruppen. BDS-Sympathisant*innen, die die in die Halle strömenden Leute aufklärten, Freiheit müsse her, und sie wenn das nicht einsehen, dann fühlten sie ihr Gefängnis, in dem sie sitzen, nicht einmal. Sie riefen Parolen, hielten ihre Transparente Fotograf*innen hin – und wurden desinteressiert links liegen gelassen.

Auf der anderen hatten sich Ultraorthodoxe aus Jerusalem versammelt, um gegen den ESC Protest einzulegen, er störe die religiöse Ordnung. Oder so ähnlich. Sie wurden nicht einmal ignoriert.

Die Schadenfreude des Abends

Österreichs Medienleute liefen seit dem frühen Samstagabend freudig, ja, schadenfreudig durch das Pressezentrum des ESC. Die Kandidatin des eigenen Landes konnte nicht der Grund sein, Paendo war im Semifinale aussortiert worden.

So sagt einer: Die Meldungen aus Wien – jetzt hat's die FPÖ und den Strache und das ganze Pack erwischt – ein Superabend für uns. Jede Pushmeldung wurde begierig aufgesogen, die Mienen der Ösis hellten sich immer weiter auf. Solidarische Mitfreude!

Und Madonna?

Kam für zwei Lieder, das eine „Like A Prayer (reloaded)“ in einer Kulisse von düsterst-gotischer Kathedralenhaftigkeit, dann aus ihrem kommenden Album das Lied „Future“ mit dem Musiker Qvavo, wobei sie die Signatur ihres kommenden Produkts trug – eine Augenklappe mit einem X als Signalzeichen. Sie sang wirklich live und sie sang gut, aber sie war eben nur eine Pausenfüllerin – wenn auch mit dem Charme einer perfekt gestylten Schirm*frau, die weiß, wie lang künstlerische Wege für junge Sänger*innen sind, mit diesem Wissen aber nicht verschrecken wollte.

Was noch?

Es gibt viele Unterschiede zwischen Israel und seinen Nachbarn, aber diesen konnte man vier Stunden lang sehen und hören: Israel kann Marketing in eigener Sache und zwar mit den Mitteln des global orientierten Showbusiness. Das sah alles wirklich sehr sehr attraktiv aus, populär, ungiftig und inklusiv. Vielleicht war das die Verkaufsmoral des Abends: Israel kann sich prima selbst darstellen, mit hohem Plausiblitätsgehalt – das Europa der EU hingegen nicht.

Und Deutschland?

Ganz weit hinten, die S!sters, einige wenige Punkte von den Jurys, keinen einzigen beim Televoting, drittletzter Platz. Das in einem aufwändigen Verfahren ausgesuchte Lied mit den beiden sehr gut singenden Interpretinnen Laurita und Carlotta sollte eine deutsche Botschaft zur #MeToo-Debatte sein. Dem eurovisionären Europa erschloss sie sich bloß nicht. Das wiederum hat dieser deutsche Diskursvorschlag mit so vielen Beiträgen aus vielen Sphären und Debattenideen Made in Germany gemein.

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