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Eva von Redeckers Buch „Bleibefreiheit“ Stay just a little bit longer

Ist Freiheit nicht mehr die Ausdehnung des Raumes, sondern die der Zeit, an einem Ort bleiben zu können? Eine Begegnung mit der Philosophin Eva von Redecker.

»Krass, und das verlieren wir«: Philosophin Eva von Redecker in Berlin Foto: Paula Winkler/Ostkreuz

taz FUTURZWEI | Es ist übertrieben heiß an dem Samstag, an dem Eva von Redecker und ich uns in Berlin treffen. Im Wedding, am Nettelbeckplatz. Das haben wir ausgemacht, weil von Redecker davor eine feministische Kundgebung besuchen wollte, die auf dem Platz gerade stattgefunden hat. »Kein Problem«, hatte ich gesagt. »Berlin ist super, ich wohne hier sowieso.« Naja, denke ich: oder auch nicht. Schließlich stellt sich die Wohnungssuche gerade (noch) schwieriger heraus als gedacht. Heute hatte ich die Nacht im Büro verbracht und – weil ich nicht schlafen konnte, vor lauter Panik aus Berlin verdrängt zu werden – von Redeckers neueste Publikation gelesen: Bleibefreiheit.

Die Fahnen des Buchs unterm Arm versuche ich die Philosophin ausfindig zu machen. Ich bin etwas nervös, erwarte den Fotos nach eine junge, kurzhaarige, etwas streng blickende, lesbisch-intellektuelle (was auch immer das bedeuten soll, denke ich dann) Frau mit autoritärer Ausstrahlung. Dann finde ich sie und es stellt sich heraus: Sie ist kurzhaarig und intellektuell und jung (Jahrgang 1982) – und einfach nur total sympathisch. Keine Ahnung, warum die Fotografen ihr diesen ernsten Touch geben wollten, vielleicht weil es in ihrem neuen Buch um ein ernstes Kampfthema geht? Freiheit. Und das von einer Person, die vor etwa zwei Jahren die Zero-Covid-Kampagne unterstützt hatte. Wie geht Freiheit heutzutage noch zusammen mit der Lage? Sicher nicht mit dieser populistischen »Freiheit« vom Recht auf nicht-tempolimitiertes Autofahren und Bratwurst essen dürfen.

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Diese Freiheit ist nicht von Redeckers Freiheit. Sondern »Bleibefreiheit«. Die Freiheit, da bleiben, also leben zu können, wo man möchte. Dass Natur bleibt, dass »Hambi bleibt«. Oder »Lützi bleibt«. Lebensraum bleibt. Von Redeckers Bleibefreiheit bezieht sich vor allem auf die Klimakrise. Bleiben im Sinne von Regenerationszeiten, Erholungszeiten für Mensch und Natur, bleiben können im Sinne von nicht getrieben sein. Und bleiben können als Menschheit, im Ökosystem, dass in Reproduktionszyklen funktioniert. Bleibefreiheit ist Teil einer neuen Kultur, die Natur nicht mehr zerstören, sondern bewahren will, um fortbestehen zu können in Freiheit. Und damit Zyklen – wie das Kommen und Gehen der Schwalben – bestehen bleiben. (Man sollte hier vielleicht darauf hinweisen, dass von Redecker in Schleswig-Holstein auf einem Hof aufgewachsen ist. Heißt: nicht nur die verklärte Sicht auf Natur kennt.)

Die Freiheit eines intakten Ökosystems

»Ich habe mir, als ich fertig war, unter das letzte Kapitel notiert: zu utopisch?«, sage ich zu von Redecker, nachdem wir uns auf eine Bank im Schatten gesetzt haben.

»Freiheitsverlustängste können ganz leicht angetriggert werden, wenn es Privilegien und Besitz betrifft. Aber der drohende Verlust des planetaren Ökosystems übersetzt sich scheinbar nicht in Angst um die Freiheit«, sagt sie. »Er wird so verhandelt, als würde es unsere Freiheit gar nicht betreffen, wenn die Bodenfruchtbarkeit abnimmt oder Zugvögel aussterben.« (Sie redet wirklich so. Zunächst.) »Was utopisch ist an dem Buch, ist der Nachweis, dass es in einem intakten Ökosystem sowas gibt wie eine echte Ökonomie der Fülle und auch eine mühelose Reproduktion.«

Ich schaue anscheinend etwas fragend, denn von Redecker lächelt und sagt dann: »Also, verschiedene Dinge leben einfach, und dabei schenken sie sich gewissermaßen gegenseitig die Zeit, sich wieder herzustellen. In dem der Baum wächst, gibt er uns Sauerstoff. Das ist nicht anstrengend, das passiert einfach. Ich will deutlich machen, was für ein Versprechen, was für eine Utopie da drinsteckt, dass man schockiert innehält und sagt, krass, und das verlieren wir!«

»DIE KLIMAPROTESTE STEHEN FÜR EIN VIEL GRÖSSERES FREIHEITSVERSPRECHEN ALS KONSUM UND BEWEGUNGSFREIHEIT.«

Eva von Redecker

Eine schöne romantische Vorstellung und zugleich ein ziemlicher Affront. Ist es denn nicht gerade das, was uns als Menschen und als Gesellschaft ausmacht, dass wir uns diese Natur zu eigen gemacht haben, dass wir Technologie, Fortschritt und Kultur hervorgebracht haben? Wir können doch gerade jetzt nicht diesen Höhenflug unterbrechen? In der Zeit nennt Ijoma Mangold die »Bleibefreiheit« ganz echauffiert »naturromantische Regression«. Grünes Wachstum. Das sei ein Schritt nach vorn. Nicht dieser »totalitäre Biedermeier«, den von Redecker da proklamiere.

Nicht überleben ist eine Option

Wachstum und Fortschritt bringen also Freiheit? Von Redecker stellt diesen Freiheitsbegriff infrage. »Die Klima-Proteste stehen für ein viel größeres Freiheitsversprechen, und zwar eben nicht für Konsum und Bewegungsfreiheit, sondern für das, was ich Bleibefreiheit nenne.« Also nicht »bleiben« in konservativer Bedeutung von Bewahrung oder im Sinne von Reisen verbieten, sondern mit der Betonung auf Freiheit; du kannst ja nur aus freiem Willen bleiben, wenn du auch die Möglichkeit hättest zu gehen. Ergibt Sinn. Aber Bleibefreiheit heiße auch, dass dein Handy alt werden kann, weil es möglich ist, es zu reparieren.

»Das Buch ist eine Mischung aus kritischer Theorie und Existenzialismus«, fasst von Redecker irgendwann zusammen.

Aber ist gerade der richtige Zeitpunkt, um sich mit so intellektuellen Fragen zu beschäftigen, wie dem Freiheitsbegriff einen mehr oder weniger neuen Dreh zu geben? Wir müssen doch jetzt erstmal handeln!

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Die Welt muss wieder schön werden

Wer Ernst machen will, muss verstehen, warum wir nicht gegen die Klimakrise handeln, obwohl wir alles wissen: Ohne Kulturwandel kein Weltretten.

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»Nee, ich glaube, es gibt für Menschen keinen Überlebenskampf, in dem nicht auch eine Spur Freiheit eingelassen ist. Menschen sind die Wesen, die sich auch fürs Nicht-Überleben entscheiden können. Und ohne Freiheit ist Überleben auch nichts mehr, für das sich zu kämpfen lohnt.«

Von Redecker fängt jetzt an, mir zu erklären, dass wir erstmal verstehen, »was also Freiheit eigentlich heißt, auf einem Planeten, dem ökologisch die Zeit ausgeht und in dem Neoliberalismus Zeit zerstört«. Das heißt für sie: »Man kann Boden so bewirtschaften, dass er langfristig fruchtbarer wird und CO2 bindet, man kann ihn so bewirtschaften, dass er in den nächsten zehn Jahren den maximalen Ertrag bringt und dann tot ist. Die kapitalistische Logik belohnt die Entscheidung für die kürzeste Spanne.« Sie wird emotional, ja fast laut: »Der heutige Neo-Liberalismus ist eine Maschine zur Zerstörung der Zeit – vor allem Zeit in der Zukunft!«

Dazu verflucht, Verantwortung zu übernehmen

Und was heißt Freiheit jetzt? In ihrem Buch hatte mir zunächst am besten die Definition des zwölfjährigen Sohnes ihrer Freunde gefallen: Freiheit sei, »wenn ich alleine auf dem Mars bin«. Aber dann hatte von Redecker diese individuelle Bewegungs- und Handlungsfreiheit, alles allein tun zu können und dann auch Kants Einschränkung (»Solange die Freiheit der anderen nicht eingeschränkt wird«) als unzureichend erklärt.

Dann doch im klassisch-existenzialistischen Sinn? Dazu verurteilt, frei zu sein, fast schon verflucht, Verantwortung zu übernehmen, und ein freies, bestimmtes Leben zu gestalten, immer mit dem Wissen, dass alles mit dem Tod endet. »Mir selbst missfällt so ein gewisser Heroismus der Freiheit darin«, sagt sie. »Wir brauchen einen Freiheitsbegriff, der die Bedürftigkeit anders mitdenkt und sagt, zur Freiheit gehört auch, dass du dich erholen kannst. Zur Freiheit gehört nicht nur, dass du dich entscheiden kannst, sondern es gehört auch dazu, dass du eine Wohnung hast, wo du gut schlafen kannst, ohne mit den Zähnen zu knirschen.«

»ES GIBT FÜR MENSCHEN KEINEN ÜBERLEBENSKAMPF, IN DEM NICHT AUCH EINE SPUR FREIHEIT EINGELASSEN IST.«

Eva von Redecker

Ich nicke. Und von Redecker schwärmt von der Idee der Freiheit über Neuanfänge bei Hannah Arendt, deren Gedanken sie in ihrem Begriff von Freiheit weiterdenkt. Und von Jim Jarmushs Film Only Lovers Left Alive, in dem die Protagonisten Vampire sind und somit Zeit, Naturveränderungen und -zyklen viel unaufgeregter wahrnehmen als die sterblichen Menschen.

»Man braucht auch Zeit, um frei zu sein. Eine Zeit der Fülle herrscht, wo es öffentlichen Luxus gibt, wo Wohnraum zur Verfügung steht und ein Gesundheitssystem, das sich auf jeden Fall um dich kümmert.« Jetzt wird es marxistisch: Sie nennt es »Infrastruktur-Sozialismus«.

Besitzindividualismus on speed

Um dahin zu kommen, hat von Redecker auch einen Vorschlag im Buch, der mir beim Lesen als ehemalige marxistisch-linke Studentin besonders gut gefallen hatte: einfach mal in Generalstreik gehen. Ja, geil. Aber so richtig Solidarität sehe ich da in der Gesellschaft nicht. Einer Umfrage zufolge hat sich die Unterstützungsbereitschaft gegenüber Klimaaktivst:innen in den vergangenen zwei Jahren halbiert, der Volksentscheid für ein klimaneutrales Berlin bis 2030 ist gescheitert und auch was die Mietsituation angeht: kaum Hausbesetzungen, dafür Schmiergelder bei der Wohnungsbesichtigung.

Faszinierender wirkt da wohl der eugenische Ansatz Elon Musks, der bestimmte Gehirne irgendwann in ferner Zukunft künstlich wiederbeleben möchte, und für den Leben in der Gegenwart keine Rolle spielt. »Besitzindividualismus on speed«, nennt von Redecker das kopfschüttelnd. Die meisten reagieren aber auf die Zukunftslosigkeit damit, sich möglichst viel in der Gegenwart anzueignen. Von Redeckers Paradigmenwechsel besteht aber gerade darin, Freiheit nicht mehr als Ausweitung des eigenen Raumes in der (fossilen) Gegenwart zu verstehen, sondern als Ausweitung der Zeitspanne, an einem Ort sein oder bleiben zu können.

Die ganze Theorie ist ja schön und gut, meine ich, aber wie erlangen wir jetzt diese Bleibefreiheit? Ist es nicht etwas naiv zu denken, dass das besitzorientierte SUV-Fahrer, AfD-Anhänger (und es werden immer mehr!) oder gar die chinesische Regierung überzeugen wird, jetzt Renaturierungsprozesse zu starten oder gar mit der Natur im Einklang zu leben?

EVA VON REDECKER

Bleibefreiheit. S. Fischer 2023 – 160 Seiten, 22 Euro

Top in allen Sachbuch-Kritikerlisten und vor allem in den taz FUTURZWEI-Charts (siehe Ausgabe N°26 Seite 71)

Von Redecker schaut mich an: »Kein philosophisches Buch der Welt kann einfach die Feinde überzeugen. Das schaffen wir in politischen Kämpfen – im Parlament und auf der Straße. Was ich als Philosophin machen kann, ist eine Aufräumarbeit im Hintergrund, wo ich beobachte, dass im Moment im Diskurs der Freiheitsbegriff halt immer nur für die andere Seite funktioniert.« Sie treffe oft junge Aktivist:innen, die sagten, Freiheit interessiere sie gar nicht. Sie wollten Klimagerechtigkeit, Dekolonisierung und verstünden nicht, dass alle diese Projekte auch an Freiheit gekoppelt seien.

Kuchenbacken für die Bewegung

»Mein Schreiben ist in bestimmter Hinsicht ein bisschen wie Kuchenbacken für die Bewegung, aber bestimmt nicht das eine Teil, das der Bewegung gefehlt hat.« Und sowieso: »Ich schreibe, weil ich es nicht lassen kann.«

Kann ich gut nachempfinden, denke ich, aber irgendwie weiß ich immer noch nicht, was ich als Einzelperson tun kann, um etwas zu bewirken. Wo bleiben die Kämpfe, von denen sie spricht?! »Vielleicht werde ich noch eine Weile leben und dann irgendwann nicht mehr. Das eine, das ich auf jeden Fall gemacht habe, ist, ein Stück brandenburgischen Boden ein bisschen fruchtbarer zu machen«, lächelt sie. Sie wohnt ja in Brandenburg und teilt sich dort mit mehreren Leuten einen größeren Garten, dort schreibt sie ihre Bücher. Und lebt auch ziemlich günstig und kann so schlafen, dass sie erholt ist, meint sie nebenbei und wirkt so in sich ruhend. Ich dagegen fühle mich total unerholt, weil ich, wie gesagt, keine Wohnung mehr habe und eine unbequeme Nacht im Büro hinter mir.

Von Redecker muss jetzt den Zug zurück nach Brandenburg bekommen und ich bleibe nachdenklich zurück. Weiß nicht so recht, ob ich gerade nur einen sympathischen intellektuell-philosophischen Austausch auf der Parkbank geführt habe, oder mir der natürlichsten Sache der Welt wieder bewusst geworden bin. Dass wir Teil eines unglaublich komplexen natürlichen Systems sind, das wir gerade selbst zerstören und somit unsere Freiheit.

Ich kaufe mir eine Plastikflasche mit Wasser. Bis zu 450 Jahre benötigt eine solche Flasche, bis sie sich in Mikroplastikpartikel zersetzt, habe ich irgendwo mal gelesen. Im U-Bahn-Waggon halten alle um mich herum so eine Flasche in der Hand.

Dieser Beitrag ist im September 2023 im Magazin taz FUTURZWEI N°26 erschienen.