Fall Yücel vor dem EGMR in Straßburg: Quälend langsam, aber sehr korrekt

Bis Mitternacht muss sich die Türkei gegenüber dem EGMR zu Deniz Yücel äußern. Aber auch der Gerichtshof steht in dem Fall unter Druck.

«Free Deniz» steht am 28.02.2017 in Frankfurt am Main auf dem Plakat eines Teilnehmers eines Autokorsos aus Solidarität mit dem in der Türkei inhaftierten Journalisten Deniz Yücel.

Lässt Ankara die Frist im Fall Yücel verstreichen? Foto: dpa

BERLIN taz | Wie lange muss Deniz Yücel noch auf seine Freilassung warten? Viele Hoffnungen ruhen auf dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR). Am Dienstag schauen die Unterstützer Yücels besonders gespannt nach Straßburg, denn um Mitternacht endet die Frist, bis zu der die türkische Regierung im Fall Yücel Stellung nehmen soll.

Der Welt-Korrespondent und ehemalige taz-Journalist Deniz Yücel sitzt seit Februar in türkischer Haft, zunächst im Polizeigewahrsam, seit Ende Februar in Untersuchungshaft. Ihm wird Propaganda für eine terroristische Vereinigung und Aufstachelung zum Hass vorgeworfen.

Am 6. April hat Yücel beim EGMR eine Beschwerde gegen seine Untersuchungshaft eingereicht. Es gebe keinen konkreten Beweis, dass er türkische Strafgesetze verletzt habe. Und er habe keine Möglichkeit, sich in der Türkei effektiv gegen diese Inhaftierung zu wehren. Der Gerichtshof behandelt die Beschwerde vorrangig, weil es um einen Fall von Freiheitsentziehung geht.

Der EGMR spielt eine zentrale Rolle im Umgang der Staatengemeinschaft mit der Türkei. Die Türkei ist seit 1949 Mitglied des Europarats, dem heute 47 Staaten angehören. Damit hat die Türkei auch die Europäische Konvention der Menschenrechte akzeptiert. Dazu gehört, dass die Türkei Urteile des Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte umsetzt, da er die Einhaltung der Konvention kontrolliert.

Auch die Bundesregierung hat eine Stellungnahme angekündigt

Der EGMR hat zunächst der türkischen Regierung Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben. Die Frist läuft am 24. Oktober aus. Bis Mitternacht hat die Türkei noch Zeit, ihre Sicht darzustellen. Wenn eine Stellungnahme eintrifft, wird diese aber nicht sofort veröffentlicht. Ihr Inhalt wird auch nicht vom EGMR mitgeteilt. Die Öffentlichkeit ist zunächst darauf angewiesen, dass die türkische Regierung über ihre Stellungnahme informiert. Sobald diese Yücels Anwälten zugestellt ist, können auch diese informieren. Die Anwälte haben anschließend auch Gelegenheit, auf die türkischen Argumente zu antworten. Zudem hat die deutsche Bundesregierung eine eigene Stellungnahme angekündigt.

Möglicherweise reicht die Türkei am Dienstag auch noch gar keine Stellungnahme zum Fall Yücel ein, sondern stellt nur einen Antrag auf Fristverlängerung. So hat sie es im Parallelfall der Journalisten der Zeitung Cumhuriyet gemacht. In diesem Fall lief die Frist Anfang Oktober aus und wurde auf Antrag um drei Wochen verlängert.

Hat Yücel den Rechtsweg in der Türkei ausgeschöpft?

So oder so, es wird noch geraume Zeit vergehen, bis der EGMR über den Fall Yücel entscheidet. Möglicherweise wird es vorher noch eine mündliche Verhandlung in Straßburg geben. Eilanordnungen im „Rule 39“-Verfahren erlässt der Gerichtshof in der Regel nur, wenn Leib und Leben des Klägers gefährdet sind.

Die zentrale Frage ist im Yücel-Verfahren zunächst, ob dieser den türkischen Rechtsweg ausgeschöpft hat und ausschöpfen musste. Normalerweise ist dies die Voraussetzung, um einen Fall nach Straßburg zu tragen.

Hiervon kann nur abgewichen werden, wenn in einem Staat in bestimmten Konstellationen die gerichtliche Kontrolle überhaupt nicht funktioniert. Derzeit können sich zum Beispiel die Angehörigen von in Tschetschenien „Verschwundenen“ direkt an den Straßburger Gerichtshof wenden.

Über 30.000 Beschwerden nach dem Putschversuch

Der Gerichtshof ist bei der Gewährung direkten Zugangs aber sehr zurückhaltend. Aktuell hat er bereits zweimal türkische Klagen im Zusammenhang mit den Säuberungen nach dem Putschversuch als unzulässig eingestuft, weil der türkische Rechtsweg noch nicht ausgeschöpft wurde.

Dabei ging es um Entlassungen und Inhaftierungen vermeintlicher Gülen-Anhänger aufgrund eines türkischen Regierungsdekrets. So gingen seit Juni 2016 in Straßburg 30.900 Beschwerden im Zusammenhang mit türkischen Regierungsmaßnahmen nach dem Putschversuch ein. Derzeit sind nur noch 6.600 anhängig.

Die Türkei könnte aus dem Europarat austreten

Der Gerichtshof ist auch deshalb vorsichtig, weil seine Position derzeit insgesamt fragil ist. Staaten wie Russland und Großbritannien stellen schon seit Jahren infrage, ob sie sich weiter der Rechtsprechung des EGMR unterwerfen wollen. Wenn der EGMR in türkischen Verfahren zu ungestüm vorgeht, würde das auch die Kritiker des Gerichtshofs stärken.

Ohnehin besteht die Gefahr, dass die Türkei mißliebige EGMR-Urteile einfach ignoriert. Die Türkei könnte sogar aus dem Europarat austreten. Die Straßburger Richter achten deshalb gerade in hochpolitischen Verfahren darauf, streng nach den Regeln vorzugehen – auch wenn dies den Betroffenen quälend langsam und unentschlossen vorkommt.

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