Feuerwehrmann über Berliner Attentat: „Wir funktionieren“

Warum vor einem Jahr bei dem Anschlag auf dem Breitscheidplatz nicht noch mehr Menschen starben, erklärt Rolf-Dieter Erbe von der Berliner Feuerwehr.

Porträt Rolf-Dieter Erbe in Uniform zwischen aufgehängten Uniformen

Rolf-Dieter Erbe war auf dem Breitscheidplatz für die Berliner Feuerwehr als Sichter im Einsatz Foto: Karsten Thielker

taz: Herr Erbe, hatten Sie am 19. Dezember 2016 regulär Dienst?

Rolf-Dieter Erbe: Nein, ich kam von zu Hause. Sehr viele Einsatzkräfte haben sich an diesem Abend freiwillig zum Dienst gemeldet.

Mit welchem Stichwort wurde der Alarm ausgelöst?

Um 20.04 Uhr wurde der Feuerwehr ein schwerer Verkehrsunfall gemeldet. Um 20.07 ein Unfall mit einem Lkw und vielen Verletzten. Daraufhin wurde das Alarmstichwort „MANV“ ausgegeben – Massenanfall von Verletzten.

Wie viele Mitarbeiter von Feuerwehr und Rettungsdienst waren in der Nacht vor Ort?

Rund 150 Einsatzkräfte. Das entspricht in etwa einem Viertel der in Berlin verfügbaren Dienstkräfte. Die Stadt lebt ja weiter.

Der Brandoberamtsrat (58) hat Maschinenbau studiert. Seit 1979 ist er bei der Freiwilligen Feuerwehr, seit 1989 bei der Berufsfeuerwehr. Er arbeitet im Einsatzführungsdienst, organisiert Aus- und Fortbildungen und ist Teil des Teams, das bundesweit Schulungen zum Thema Einsatz nach Terroranschlägen am Beispiel des Breitscheidplatzes durchführt.

Sie selbst waren gegen 20.25 Uhr am Breitscheidplatz und wurden als Sichter eingesetzt. Was heißt das?

Es gab mehrere Sichtungs­teams. Wir sollten dem Leitenden Notarzt, der die medizinische Versorgung vor Ort koordiniert, schnellstmöglich Rückmeldung geben: Wie viele Patienten sind vital bedroht? Wo sind sie? Wer muss als Erstes versorgt und ins Krankenhaus transportiert werden? Bei der Sichtung gibt es drei Kategorien. Die Farbe Rot steht für vital bedroht, Gelb für schwer verletzt und Grün für leicht verletzt.

Wie gehen Sie vor?

Für eine Ersteinschätzung zählt man die Verletzten. Zu jedem Patienten beantworten wir einen kurzen Fragenkatalog. Das geschieht anhand einer Checkliste. In eine Anhängekarte, die wir an dem Verletzten befestigen, tragen wir eine der drei Sichtungskategorien ein.

Wird da nicht unnötig Zeit vertan?

Im Gegenteil. Das ist Lebensrettung! Die Sichtung mit der Checkliste pro Patient dauert weniger als eine Minute. Kritisch Verletzte, die zuerst vorsorgt werden müssen, werden so schneller gefunden.

Polizei und Geheimdienste haben den Attentäter vom Breitscheidplatz, Anis Amri, nach Recherchen der Welt am Sonntag viel früher und intensiver überwacht als bislang bekannt. Dies gehe aus Tausenden Akten, Dutzenden V-Mann-Berichten und Protokollen von Telefon- und Internetüberwachungen hervor.

Spätestens seit November 2015 ließ die Bundesanwaltschaft demnach den Tunesier vom BKA und vom Landeskriminalamt NRW durch den Polizei-V-Mann „Murat“, der als „VP01“ in den Akten auftaucht, gezielt überwachen. Dies sei Teil verdeckter Ermittlungen gegen die mutmaßliche IS-Terrorzelle des Hildesheimer Predigers Abdullah Abdullah gewesen alias „Abu Walaa“.

Am 19. Dezember 2016 war Amri mit einem Lkw in den Weihnachtsmarkt gerast, 12 Menschen wurden getötet, über 70 verletzt. Laut Bericht lud Amri am 14. Dezember 2015 mit seinem überwachten Smartphone Anleitungen zum Mischen von Sprengstoff herunter. Spätestens ab dem 2. Februar 2016 telefonierte Amri demnach mit dem Handy mit zwei IS-Kadern in Libyen und bot sich als Selbstmordattentäter in Deutschland an. (dpa) meinung 12

Leisten Sichter keine Erste Hilfe?

Lebensrettende Handgriffe gehören zur Sichtung. Man lässt niemanden sterben. Wenn es eine starke Blutung gibt, wird man diese stillen. Da geht man natürlich nicht weiter. Ansonsten gibt es aber eine klare Aufgabenteilung. Eine weitere Versorgung wie einen venösen Zugang legen oder Wunden versorgen, das machen andere Einsatzkräfte.

Was passiert dann?

Dann werden die Versorgungsteams und Trägertrupps losgeschickt.

Wie lange mussten die Verletzten auf dem Breitscheidplatz warten, bis sie behandelt wurden?

Zunächst hat man versucht, die Patienten da, wo sie gefunden wurden, zu stabilisieren. Drei Rettungswagen sind innerhalb der ersten zehn Minuten mit vital bedrohten Patienten weggefahren. Die anderen sind in ein Zelt gebracht worden, das wir vor Ort aufgebaut haben, damit sie erst mal im Warmen sind. Wir können nicht 20 Rettungswagen auf einmal vorfahren lassen. So viel Platz ist nicht da. Nach etwa einer Stunde hatten wir alle kritischen Patienten weg. Nach zwei Stunden waren alle Patienten weggefahren. Auch die Leichtverletzten.

Gab es für die Rettungswagen auch klare Anweisungen?

Ja, dafür sorgt der für die Rettungsdienste zuständige Einsatzleiter. Planmäßig, so ist es auch hier gemacht worden, gibt es einen sogenannten Bereitstellungsraum. Es gibt einen Rettungsmittel-Halteplatz, wo die Fahrzeuge vorfahren. Und eine sogenannte Ladezone, wo die Patienten eingeladen und abgefahren werden. Das hat etwas mit Raumordnung zu tun. Das ist wichtig: Man baut ein Einbahnstraßensystem, damit die ein- und abfahrenden Rettungswagen nicht kollidieren.

Das hört sich sehr technokratisch an. Wo bleiben die Gefühle in so einer Situation?

Wir arbeiten nach festgelegten Regeln. Das ist so wie bei der Fliegerei. Ein Pilot, der die Sicherheit betreffende zeitkritische Entscheidung fällen muss, arbeitet auch nach einer Checkliste. So haben auch wir Checklisten und Einsatzpläne. Immer in dem Sinn, die Patienten schnellstmöglich zu versorgen und in die Kliniken zu bringen. Denn es gibt Verletzungsmuster, da kommt es auf die Zeit an. Wir funktionieren. Die Gefühle kommen hinterher.

Wie übt man das?

Dafür gibt es Kurse, die wir im Jahr mehrmals machen, auch mit den Notärzten. Wir üben Großschadensereignisse, wie das bei uns heißt, auch anhand eines Planspiels.

Sind alle Menschen gerettet worden, die hätten gerettet werden können?

Die Ärzte haben hinterher festgestellt: Niemand ist aufgrund irgendwelcher Mängel, sei es durch Verzögerungen, oder dass irgendetwas nicht gemacht worden wäre, noch weiter zu Schaden gekommen. Leider waren die Verletzungsmuster von denen, die verstorben sind, so schwerwiegend, dass sie nicht zu retten waren.

Woran denken Sie da?

An die Überrolltraumen. Wenn ein Lkw über einen Menschen fährt, ist das nicht überlebbar.

Nach den Terroranschlägen 2015 in Paris kam die Forderung auf, alle Rettungswagen mit sogenannten Tourniquets auszustatten. Das ist ein Abbindesystem, mit dem eine lebensbedrohliche Blutung an Ar­men oder Beinen gestoppt werden kann. Standen bei der Versorgung der Opfer auf dem Breitscheidplatz genug Tourniquets zur Verfügung?

Es gab genug Tourniquets, aber die befanden sich auf den Rettungswagen. Die Ersthelfer hatten keine. Diese Erfahrung ist bei vielen Einsätzen gemacht worden, wo es Terroranschläge gab: Wenn sich die Tourniquets auf den Rettungswagen befinden, nutzt das den Ersthelfern nichts. Deshalb haben wir jetzt 600 Rucksäcke mit Ersthelfer-Sets und jeweils einem Tourniquet darin, angeschafft. Diese Sets kann man im Bedarfsfall schneller aushändigen.

Wer sind die Ersthelfer?

Das sind die Leute, die zuerst bei den Verletzten sind. Am Breitscheidplatz waren das vor allem Weihnachtsmarktbesucher. Sie haben sehr wirkungsvolle Erste Hilfe geleistet. Uns ist keine Person bekannt, die gestorben wäre, weil Tourniquets gefehlt hätten. Es gab sehr, sehr schwere Verletzungen. Aber das waren kaum schwer nach außen blutende Wunden. Das ist eher bei Explosionen, Schüssen und Messerattacken der Fall.

Was wären da die Folgen?

Seit den Anschlägen in Paris weiß man, dass bei Explosionen und Schussverletzungen mit sehr, sehr schweren Blutungen der Extremitäten gerechnet werden muss. Man hat festgestellt, dass bei Anschlägen 40 Prozent der Todesursachen Verbluten ist. Selbst wenn wir nach sieben oder acht Minuten da sind – bei so schwer blutenden Verletzungen wäre das zu spät.

Was kann ein Ersthelfer tun?

Helfen kann man, indem man ganz einfach auf die stark blutende Wunde drückt. Bei großen Wunden oder Abrissen von Gliedmaßen muss man abbinden. Damit wird verhindert, dass jemand ausläuft, auf gut Deutsch gesagt. Nach den Anschlägen in Paris haben uns die Kollegen erzählt, die Menschen seien ohne Schlips und Gürtel aus den betroffenen Lokalitäten gekommen. Jeder hat etwas dabei, womit er wirkungsvoll helfen kann.

Für den Einsatz auf dem Breitscheidplatz haben die Rettungskräfte viel Anerkennung erhalten. Wie ist das angekommen?

Das hat uns gutgetan. Lob ist in Berlin ja eher nicht der Normalfall. Von vielen Ereignissen kennen wir es, dass Kritik kommt – von der Öffentlichkeit, von der Politik, von der Presse.

Wann war das so?

Eigentlich ist das bei fast jedem Einsatz so. Auch bei Verkehrsunfällen. Warum kommen Sie so spät? Manchmal denken die Leute, wir frühstücken zu Ende oder weiß ich nicht, was. Dabei können wir erst dann losfahren, wenn man uns anruft. Deshalb ist der schnelle Notruf, 112, ja so wichtig. Wenn unterwegs Stau ist und die Autofahrer keinen Platz machen, können wir nicht schneller fahren. Und dann zeigen uns die Leute auf der Straße noch den Vogel in dem Sinne, wir sollten mal nicht so übertreiben. Aber nicht nur deshalb haben uns die Dankeswelle und die Anteilnahme der Bevölkerung gutgetan. Den Einsatzkräften hat das auch weitergeholfen.

Wie meinen Sie das?

Das war schon ein sehr belastendes Ereignis. Sehr viele der Notfallsanitäter und Rettungsassistenten haben das in diesem Ausmaß noch nie erlebt. Wir haben zunächst an einen Verkehrsunfall geglaubt. Wir haben uns das richtig eingeredet. Als dann die Bestätigung kam, es ist ein Anschlag, war das für alle wie ein Schlag in die Magengrube.

Was macht den entscheidenden Unterschied?

Ich mache den Beruf fast 30 Jahre. Mit Toten und schweren Unglücken umzugehen gehört zu unserem Alltag. Das ist tragisch genug, aber dazu sind wir da. Aber dass hier jemand mit Absicht dieses Leid verursacht hat, das war eine zusätzliche erhebliche Belastung – auch für mich.

Im Normalfall macht Ihnen der Anblick von Unfallopfern nichts mehr aus?

Ganz so ist es nicht. Besonders wenn Kinder unter den Opfern sind, was hier Gott sei Dank nicht der Fall war, geht einem das nahe. Man ist da nicht abgebrüht. Oder wenn Menschen bei Bränden aus dem Fenster springen und man weiß, sie hätten das nicht tun müssen. Nach zehn Minuten ist die Feuerwehr in der Regel da. Nach zehn weiteren Minuten haben wir das Feuer im Griff. Wenn jemand nur deshalb ums Leben kommt, weil er nicht wusste, wie er sich zu verhalten hat – das belastet.

Wie sind Ihre Kollegen mit den Erlebnissen auf dem Breitscheidplatz fertig geworden?

Noch am selben Abend, um 23 Uhr, gab es das Angebot, an einem psychologischen Nachsorgegespräch teilzunehmen. Dafür gibt es bei der Feuerwehr ein extra ausgebildetes Team. Bei dem Gespräch waren fast alle Kräfte dabei, bei einem zweiten Treffen deutlich über die Hälfte. Die Gespräche befreien einen ein bisschen von der Last. Auch untereinander noch mal zu sprechen hilft.

Der Einsatz ist jetzt ein Jahr her. Wie lautet Ihr Fazit?

Die Multifunktionalität hat sich bewährt. In Zukunft müssen wir uns aber noch mehr darauf einstellen, dass auch die Rettungskräfte bei so einem Einsatz gefährdet sein könnten. Auch deshalb machen wir weiterhin Aufarbeitung und versuchen Lehren zu ziehen. Eine gute Zusammenarbeit mit der Polizei am Einsatzort ist für uns lebenswichtig. Unser Wissen geben wir auch an andere Feuerwehren und Rettungsdienste weiter. Bundesweit haben wir rund 80 Anfragen nach Vorträgen und Schulungen.

Unter welcher Überschrift läuft das Programm?

„Lessons learned-Anschlag auf dem Weihnachtsmarkt vom Breitscheidplatz“. Bevor andere selbsternannte Experten durch die Welt reisen, machen wir das lieber selbst.

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