Filmemacherin über ihre Straße: Balkon zur Welt

Der Balkon ist ein guter Ort um zu erfassen, wie das Leben verstreicht. Und irgendwann kommt der Herbst.

Was die da machen? Blick vom Balkon Foto: Katrin Eissing

Jedes Jahr neu versuche ich über die Pflanzen auf dem Balkon einen Zeitrafferfilm zu drehen. Jedes Jahr scheitert das, weil das Stativ zu sehr im Weg steht. Wenn ich nämlich nicht weiß, was ich auf diesem Planeten überhaupt will, schleppe ich Blumentöpfe hin und her. Frühlingserwachen knallt gegen Balkongeländer. Da ächzt die Nachbarin linker Hand. „Jetzt geht dat wieda los mit dit Jeräume.“ Darüber könnte man einen Langzeitzeitrafferfilm drehen.

Ich habe seit 20 Jahren einen Balkon in Pankow. Der wucherte erst jedes Jahr neu. Es gab noch keine Bienenmischungen, aber „Treu Wiesengut“ mit farbigen Wellenbewegungen, die die Aussicht fegten. Ein Jahr kam ganz in Blau. Rittersporn, Kornblumen, Trichterwinden. Ein Jahr echtes Dünengras. „Wieso haben wir keine richtigen Blumen wie die Omis?“ fragte ein damals noch kleiner Junge. Im Hinterhaus lebten drei alte Frauen, die Spaß daran hatten, schicke Kirmespflanzen zu ziehen. Sie sind nicht mehr da, stattdessen junge Männer mit Kartoffeln im Eimer. Jetzt setzen sich hier bei mir die Petunien wie altmodische Zuckerkringel, rotweiß gestreift, und rosa Geranien durch.

Fast alle im Haus hatten ungefähr gleich alte Kinder. Was praktisch ist, wenn die klein sind und auch dann, wenn sie anfangen, Partys zu schmeißen. Komisch wird es allerdings, wenn sie das auch mit der Schule tun, auf Speed flegeln oder Sprayerfreunde haben, die leider total nett sind. Den neuen, jungen oft recht reichen Eltern, von denen niemand weiß, wieso die so plötzlich alle hier auftauchten und womit sie ihre wahnsinnig teuren Kinderwägen bezahlen, ist nicht klar, dass ihre süßen Lieblinge auch bald mit Kapuze überm Gesicht herumschlurfen dürften.

Göttliche Schleifen

Deshalb und auch weil die Polizisten eine Zeit lang viele Facebookparty-Weiterbildungen hatten, kam es in den letzten Sommern zu vielen Polizeieinsätzen. Von den Balkonen aus beurteilten wir Nachbarn ihre verhältnismäßige Sinnlosigkeit. Sinnlos wie „urban gardening“, denn obwohl die Tomatenpflanzen herrlich nach Drachen aussehen und stinken, fallen ihre Früchte immer auf die Straße runter, wenn sie reif sind.

Aber der Sinn bewegt sich ja in göttlichen Schleifen, wie der in der Ferne abends vom lauen, blauen Balkon aus gesehen, schöne, glatzköpfige Kickboxer, der auf unserer Straße als seine Strandpromenade trainiert (mit Gymnastik-Band). Dort sah ich auch einst beim Gießen durch Äste sehr viele Teenies auf der Straße. Um dieses Haus mit Linden davor, in denen Balkone stecken, gibt es drei große Schulen. Eine Schule ist voller Mädchen: das Gymnasium. Die andere wird von Jungs mit knackigen Kurzhaarschnitten besucht, die ihre Arme immer etwas vom Körper abhalten. Dies ist die Sekundarschule.

Früher, als in Pankow noch alle arbeitenden Klassen beieinander wohnten, kannten sich die Schüler von der Grundschule. Es gab gemeinsame Feste mit Prügeleien. Heute ist das nicht mehr so. Ich sah also die Gruppen und Grüppchen, teilweise Freunde der Kinder in unserem Hof verschwinden und ging barfuß runter. Schon um zu gucken, woher der hallige Sound kam. Im Hof war ein dichter Schwarm aus trinkenden Jugendlichen sowie Polizisten versammelt. Die Polizisten schritten nüchtern und erleichtert auf mich zu. Da ich eine Mutter sei und hier wohne, wäre ich für alle aufkommenden Schäden rechtlich verantwortlich. “Aber ich habe nur auf dem Balkon gesessen!“ „Das kann ja jeder sagen!“

Ein mutiger Polizist stellte sich auf eine Wippe und wollte etwas sagen. Von allen Balkonen schwappten Bemerkungen und Tipps auf ihn herunter. Schließlich schwieg er lieber und ein 15-Jähriger rief stattdessen: „Wir gehen in den Bürgerpark.“ Was blieb, waren Bierflaschen an der Schaukel. Immer noch Balkongespräch Nummer zwei.

„Januar, Februar, März du bist mein liebstes Herz.

Mai Juni, Juli, August, mir ist von nichts bewusst.“(Goethe)

Als ich keinen Balkon hatte, vermisste ich ihn natürlich noch nicht. Die Nachbarn sind dann viel ferner. Man hört sie kaum ohne Balkon beziehungsweise wie im Winter. Der Sommer kann mit Balkon keines Satzes sicher sein.

Ich weiß viel mehr über die Welt und mich, seit ich einen habe. Zwei Nachbarinnen telefonieren jeden Sommer laut und schon viele Jahre auf dem Balkon. Die eine jeden Samstag circa drei Stunden mit ihrer Mutter. Es geht um alles. Also auch ab und zu um meine Kinder und mich.

Im Hamburger Wind

Früher, nur am Fenster im Hamburger Wind, war’s auch schön. Ob sie arbeiteten und was, erkannte man an den Nachbarn erst, wenn man sich unterhielt. Zum Beispiel wenn sie in St Pauli auf dem Fußabtreter lagen und sich unglücklich entschuldigten, sie tränken nur manchmal und auch nur, weil sie als Polizeifotografinnen schon soviel Schlechtes gesehen hätten.

Ein Nachbar kifft jeden Tag auf dem Balkon und also zu uns herüber. Er hat selbst Teenagerkinder und ruft trotzdem manchmal die Polizei. Wenn diese Nachbarn Besuch haben, werden sie mutig und rufen Sachen wie: „Mal wieder nachtaktiv gewesen, wa?“ zu mir hoch. Sie sind geräuschempfindlich und lassen ihre Pflanzen vertrocknen. Ich frage sie nie etwas, aber sie haben mir mal erzählt, dass sie mit Psychosen arbeiten und sich deshalb auch mit mir auskennen würden.

Die liebste Sommerarbeit der Katze: auf dem Balkon den Vögeln beim Vögeln zusehen und Fliegen fangen. Auch pinkelt sie gern in die am Balkonboden stehenden Stauden. Sie könnte Katzenmodell werden. (Das sagt jeder Katzenbesitzer über seine Katze.) Dann quietschte es. Katze fiel vom Balkon in einen Busch. Wir suchten sie, trugen sie vorsichtig hoch. Das Tierchen lag drei Tage zitternd unterm Sessel und seufzte nur noch. Verdrehter Rücken. Der Balkon ist nicht hoch genug für eine Katze, um sich zeitgerecht in der Luft zu drehen. Wir fütterten sie auf Knien mit kleinen Löffeln voll Vanillejoghurt und Kaviar. Sie isst auch jetzt nichts anderes, obwohl sie wieder frisch und lustig ist.

Dann schreitet das Jahr voran, bald fallen die Blätter einfach ab und die Linde lässt tief blicken. Die Kinder sind oft schrecklich lange in komischen Touristenclubs und ich kann es nicht mehr verbieten.

„Mama, ich hör Stimmen!“

“Ist doch kalt, mach die Balkontür zu.“

„Aber die Stimmen sind so gruselig…es werden Kinder gebraten, wie bei Hänsel und Gretel!“

Ich gehe vorsichtig auf den Balkon und höre deutlich:

„Ach, der Sommer ist schon fast vorbei, wie schade, gib mir noch ein Stück von der kleinen Leber, echt lecker… komisch, wenn wir hier grillen, hab ich oft das Gefühl, die Nachbarn hören uns zu, zum Beispiel jetzt…“

Der Herbst der Herbst, der bricht mir noch das Herz.

Dies ist ein fiktiver Text. Eventuelle Ähnlichkeiten mit Nachbarn sind völlig zufällig.

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52, studierte Kunst in Hamburg und Experimentalfilm in Berlin. Sie lebt als Dokumentarfilmerin und Autorin im Stadtteil Pankow und gibt eine Siebdruckzeitung heraus (Ganszeitung).

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