Flutkatastrophe in Indien: Kerala zählt seine Toten

Die Entwicklungsstrategie nahm keine Rücksicht auf die fragile Ökologie Südindiens. Das machte aus einem heftigen Monsun eine Katastrophe.

Eine Frau steht bis zur Brust im Wasser und eigt auf ein überschwemmtes Haus

Indien erlebt die schwerste Flut seit 1924 Foto: ap

DELHI taz | Nach fünf Tagen heftigsten Regens gibt es endlich gute Nachrichten aus Kerala, dem indischen Bundesstaat, der zur Zeit von einer Jahrhundertflut heimgesucht wird: Der Regen lässt nach und wird nach Ansicht der Meteorologen im Laufe der Woche weiter zurückgehen.

Das erlaubt den vielen hauptamtlichen und freiwilligen Helfern, sich nun verstärkt auf die rund 900.000 Menschen zu konzentrieren, die bisher evakuiert und größtenteils in Übergangslagern untergebracht werden mussten. Sie brauchen Essen und müssen rechtzeitig medizinisch versorgt werden, um zu verhindern, dass sich Krankheiten ausbreiten.

Neben Indiens National Disaster Response Force (NDRF), die die Rettungsmaßnahmen leitet, der Küstenwache, der Armee, der Marine, der Feuerwehr und anderen Hilfsorganisationen aus Kerala und benachbarten Bundesstaaten sind auch zahlreiche kleine Initiativen, private Spender und Unternehmen dabei, Nahrungsmittel und Medikamente nach Kerala zu bringen. Indien erlebt derzeit eine Welle der Solidarität.

Die Regierung in Neu-Delhi hat rund 60 Millionen Euro Hilfe zugesagt – zu wenig, wie die Regierung von Kerala meint, die etwa das Vierfache verlangt hat. Doch auch die Vereinigten Arabischen Emirate und Katar haben massive Hilfen zugesagt. Saudi-Arabien und Oman wollen sich anschließen. Kerala hat eine jahrhundertelange Tradition des Handels mit den Golfstaaten auf der Arabischen Halbinsel und eine große Diaspora dort. Von den etwa 7 bis 8 Millionen Indern, die am Golf leben, stammen etwa ein Drittel aus Kerala, das selbst etwa 35 Millionen Einwohner zählt. Sie tragen erheblich zum Wohlstand des südindischen Bundesstaates bei, der sich selbst „Gottes eigenes Land“ nennt.

Dramatische Rettungsaktionen
V. Madhusoodhnan

„Das waren alles ökologisch sensible Gebiete“

Bis zum Wochenende dominierten Bilder von überschwemmten Dörfern und von Menschen, die auf den Dächern ihrer versunkenen Häuser darauf warteten, von Hubschraubern gerettet zu werden oder wenigstens eines der Hilfspakete zu erhalten, die aus der Luft abgeworfen wurden. Dramatisch war die Rettung einer hochschwangeren Frau, deren Fruchtblase bereits geplatzt war; die 25-jährige Sajitha Jabil konnte gerade noch rechtzeitig von einem Hubschrauber der indischen Marine in ein nahe gelegenes Krankenhaus geflogen werden und brachte eine halbe Stunde später dort ihren Sohn zur Welt.

Andere hatten weniger Glück. Nach Angaben lokaler Medien sind seit Beginn des Monsuns im Juni in Kerala 370 Menschen gestorben. Eine Zahl, die noch steigen wird, denn Dutzende wurden als vermisst gemeldet und mit den zurückgehenden Wassern tauchen Leichen auf – am Sonntag allein an die 30. Innenminister Rajnath Singh sagte, es handele sich um die schwerste Flut in Indien seit 1924.

Während das südliche Kerala in normalen Jahren einen Großteil seines Regens während des Nord-Ost-Monsuns von Oktober bis Dezember erlebt, ist im Norden des Bundesstaats der Süd-West-Monsun von Juni bis September ausgeprägter. Dieses Jahr jedoch hat der ganze Bundesstaat seit Juni heftige Regenfälle erlitten, insgesamt 37,5 Prozent mehr als üblicherweise. Dies hat dazu geführt, dass von 39 Staudämmen in Kerala 35 geöffnet werden mussten, was zu weiteren massiven Überschwemmungen führte.

Während die massiven Regenfälle gut in das Interpretationsmuster passen, wonach durch den Klimawandel Wetterextreme weltweit zunehmen, weisen Umweltschützer in Indien auch auf eine Reihe von hausgemachten Problemen hin. „Kerala erlebt derzeit eine menschengemachte Katastrophe“, sagt V S Vijayan, Umweltwissenschaftler und Mitglied eines Expertenkomitees zu den Western Ghats, dem 1.600 Kilometer langen Gebirge in Indiens Südwesten, das auch durch Kerala verläuft.

Abholzung und ungehinderter Bauboom

Laut Vijayan hat ein Team von Experten unter Madhav Gadgil, dem Gründer des Zentrums für Umweltwissenschaft am renommierten Indian Institute of Science in Bengaluru, der Regierung in Kerala bereits 2011 eine Studie vorgelegt, in der gefordert wurde, dass viele der Regionen, die jetzt von der Flut am heftigsten getroffen wurden, zu „ökologisch sensiblen Zonen“ erklärt werden, in denen der Abbau von Mineralien sowie Steinbrüche verboten werden sollten. Das Gadgil-Komitee empfahl auch, in diesen ­Regionen die weitere Abholzung von Wäldern und den ungehinderten Bauboom zu stoppen.

Die Western Ghats waren ursprünglich weitgehend von ­Regenwald bewachsen. Sie sind einer der wichtigsten Biodiversitäts-Hotspots weltweit, was bedeutet, dass hier eine Großzahl endemischer Pflanzen- und Tierarten leben, die besonders bedroht sind. 2012 wurden 39 Schutzgebiete in den Western Ghats in die Liste des Unesco-Weltnaturerbes aufgenommen.

Das Gadgil-Komittee hatte empfohlen, große Teile der Western Ghats nach der jeweiligen ökologischen Schutzbedürftigkeit in drei Zonen aufzuteilen, die nur beschränkt wirtschaftlich genutzt werden könnten. Doch die Regierung von Kerala verwarf den Bericht nach Angaben Vijayans als „unpraktikabel“.

„Die Regionen, in denen es jetzt zu den heftigsten Erdrutschen gekommen ist, waren alles ökologisch sensible Gebiete“, sagt auch V. Madhusoodhnan, Gründer des World Institute of Sustainable Energy in Pune und Autor eines Buches über Keralas Umweltgeschichte. „Die Städte, die total überflutet wurden, sind diejenigen, die auf landwirtschaftlichen Nutzflächen gebaut wurden, für die zuvor Land abgetragen wurde, und die jetzt normale Wasserstraßen blockieren.“

Noch dominiert derzeit praktische Hilfe für die Opfer und der notwendige Wiederaufbau die Diskussion in Kerala. Doch wenn die schlimmsten Schäden beseitigt sind, wird „Gottes eigenes Land“ viel Anlass zum Nachdenken über die Folgen der wirtschaftlichen Entwicklung haben.

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