Gedenken an Nagelbomben-Anschlag: Drei wichtige Tage für Köln

Pfingsten wird in der Keupstraße getanzt, gefeiert, gelacht. Genau dort, wo vor zehn Jahren eine Nagelbombe explodierte.

Bundespräsident Gauck bei den Feiern in der Kölner Keupstraße Bild: dpa

KÖLN taz | Ausnahmezustand in Köln-Mülheim. Die Keupstraße und die angrenzenden Straßen sind schon am frühen Pfingstmontag großflächig gesperrt. Unzählige Polizeiwagen. Kleine Gruppen mit Leuten in Poloshirts, auf denen „Steward“ steht. Von der riesigen Bühne dringen Soundcheck-Geräusche, Bässe wummern. Mehr als 70.000 Leute werden in wenigen Stunden auf den Platz drängen, um das Solidaritätskonzert für die Opfer des Nagelbombenanschlags vor genau zehn Jahren zu hören.

Am 9. Juni 2004 explodierte vor dem Friseurladen Özcan in der Keupstraße eine mit 5,5 Kilogramm Schwarzpulver und etwa 800 Zimmermannsnägeln gefüllte 3-Kilo-Gasflasche. Die selbst gebastelte Bombe verletzte 22 Menschen, vier von ihnen schwer. Mit der großen Veranstaltung „Birlikte – Zusammenstehen“ leistet die Stadt Abbitte dafür, dass die Opfer jahrelang zu Tätern gemacht wurden. Bis zur Selbstenttarnung des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU) 2011.

Zur Großkundgebung am Montag ist auch Bundespräsident Joachim Gauck gekommen. Kurz vor 16 Uhr tritt er ans Mikro. „Wir fühlen mit denen, die damals an Körper und Seele verwundet wurden, mit ihren Familien und Freunden, mit den Anwohnern dieser Straße“, sagt er. „Wir denken auch daran, wie viele Betroffene sich später allein gelassen oder als Verdächtige behandelt fühlen mussten.“

Die Kundgebung am Montag ist der Abschluss eines dreitägigen Veranstaltungsmarathons rund um die Keupstraße. Drei wichtige Tage für Köln, wie Kölns DGB-Vorsitzender Andreas Kossiski später sagen wird.

Die zweite Bombe

Zum Auftakt sprechen die Brüder Özcan und Hasan Yildirim im angrenzenden Schauspiel Köln. Es ist ihr Friseursalon, vor dem vor zehn Jahren der Sprengsatz hochging. Die Zimmermannsnägel trafen Hasan Yildirim am Oberkörper und im Gesicht. Es sei „wie eine zweite Bombe“ gewesen, dass die Ermittlungsbehörden nach dem Anschlag allzu schnell einen rechtsterroristischen Hintergrund ausschlossen und stattdessen ihr Augenmerk auf die Menschen in der Keupstraße richteten. Dabei habe er damals dem Täter kurz ins Gesicht geblickt. Er beschrieb einen blonden Mann. Die Polizei fahndete nach einem dunkelhaarigen.

Abdullah Özkan hatte sich gerade die Haare schneiden lassen und wollte das Ladenlokal der Yildirims verlassen, als die Bombe explodierte. Die Wucht der Detonation schleuderte ihn durch das Geschäft. Auf einer der zahlreichen Veranstaltungen am Samstag erzählt der bullige Mann, was danach geschah. „Man hat uns erst mal sechs, sieben Stunden verhört“, berichtet er. „Da wussten wir, dass wir nicht als Opfer, sondern als Täter angesehen werden.“

Der Elektriker war stets davon überzeugt, dass Neonazis dahinter stehen könnten. Kölns Polizeipräsident Wolfgang Albers widerspricht nicht. „Der Fehler war, dass wir es nicht für möglich gehalten haben, dass es in Deutschland eine braune Terrorbande geben kann“, sagt er. Es bleibe nichts anderes, als sich dafür zu entschuldigen, dass Opfer zu Tatverdächtigen gemacht wurden. Im Foyer der Halle in der Schanzenstraße, die den Kölnern zurzeit als Schauspielhaus dient, stehen am Sonntag Ibrahim und Namik Arslan.

Die beiden Brüder warten auf den Beginn einer Diskussion mit Bundesjustizminister Heiko Maas. Sie sind Überlebende des rechtsextremen Anschlags in Mölln 1992. „Wir möchten, dass die Opferperspektive stärker in den Vordergrund rückt“, sagt Ibrahim Arslan, der den Brandanschlag als Sechsjähriger erlebte. Sein Bruder war damals sechs Monate alt. Ibrahim Arslan hat erst nach langen Kämpfen 2012 eine Opferrente bewilligt bekommen. „Ich will nicht, dass die Opfer und Überlebenden der NSU-Anschläge das Gleiche mitmachen müssen wie wir“, sagt er. „Wir brauchen eine Stiftung für die Opfer, die von ihnen selbst geleitet wird“, fordert er. „Es gibt zu wenig Empathie mit den Opfern“, sagt Anetta Kahane von der Antonio Amadeu Stiftung bei der Diskussion im Schauspielhaus.

Später spielen die Bläck Föös. Bis spät in die Nacht sollen noch viele weitere Gruppen auftreten. Mit dem Schlussakkord ist das Thema nicht vom Tisch.

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Rechtsextreme Terroranschläge haben Tradition in Deutschland.

■ Beim Oktoberfest-Attentat im Jahr 1980 starben 13 Menschen in München.

■ Der Nationalsozialistische Untergrund (NSU) um Beate Zschäpe verübte bis 2011 zehn Morde und drei Anschläge.

■ Als Rechtsterroristen verurteilt wurde zuletzt die sächsische „Gruppe Freital“, ebenso die „Oldschool Society“ und die Gruppe „Revolution Chemnitz“.

■ Gegen den Bundeswehrsoldaten Franco A. wird wegen Rechtsterrorverdachts ermittelt.

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