Gedenkstätte Sachsenhausen: Oranienburg sucht den Königsweg

Weil immer mehr BesucherInnen in die Gedenkstätte Sachsenhausen kommen, würden einige Anwoh­nerInnen gern deren Eingang verlegen

Tor zur Gedenkstätte Sachsenhausen

Einige Anwohner Oranienburgs schlugen vor, die Busse über das ehemalige SS-Truppenlager zur Gedenkstätte zu leiten. Die Gedenkstätten-Sprecher waren entsetzt. Foto: Jürgen Ritter/imago

Dass wachsender Tourismus nicht nur in der Hauptstadt, sondern auch in der Provinz zum Problem werden kann, ist derzeit im beschaulichen Oranienburg zu beobachten. Der Anlass für den seit Monaten in der 45.000-Einwohner-Stadt schwelenden Konflikt ist eigentlich erfreulich: Die dortige Gedenkstätte Sachsenhausen konnte ihre Besucherzahlen seit 2006 nahezu verdoppeln. Rund 700.000 Menschen besuchen inzwischen jährlich das ehemalige Konzentrationslager. Das Problem ist nur: Wie kommen sie dahin?

Dutzende Reisebusse

Der Eingang zur Gedenkstätte liegt mitten in einem Wohngebiet, am Ende der kopfsteingepflasterten Straße der Nationen. Dort brettern unter der Woche Dutzende Reisebusse durch, erzählt Henning Schluß, der in der Straße wohnt. Das zweite Ärgernis: Die Reisebusse warten auf dem Parkplatz am Ende der Straße oft stundenlang mit laufendem Motor und verpesten die Luft mit Abgasen und Lärm.

Für die GedenkstättenbesucherInnen ist etwas anderes problematisch. Etwa die Hälfte von ihnen fährt nämlich mit dem Regionalzug oder der S-Bahn aus Berlin kommend den Bahnhof der Kreisstadt an – und hängt dort erst mal fest. Denn die Linie 804, der Bus der Oberhavel Verkehrsgesellschaft (OVG), der vom Bahnhof Oranienburg die rund 2,5 Kilometer zur Gedenkstätte Sachsenhausen fährt, kommt wochentags nur einmal die Stunde, am Wochenende nur alle zwei. Viele TouristInnen gehen also zu Fuß.

Im Sommer reichte es einigen AnwohnerInnen, sie gründeten die Initiative „Gedenkstätte Sachsenhausen – Gedenken im Einklang mit dem Leben“. Die Forderung, mit der sie an die Öffentlichkeit gingen, barg politischen Sprengsatz. Man möge doch, um die Besucherströme umzulenken, die Reise- und Linienbusse über das ehemalige SS-Truppenlager zur Gedenkstätte leiten. Von dort erreichen die Besucher nach rund 250 Meter das Tor mit der zynischen KZ-Inschrift „Arbeit macht frei“. In den früheren SS-Kasernen ist heute die Polizeifachhochschule untergebracht, drum herum gibt es viele Freiflächen. In der Nähe, im sogenannten T-Gebäude, war früher die Verwaltung aller Konzentrationslager, heute befinden sich dort das Finanzamt und die Gedenkstättenstiftung.

Die Gedenkstätte selbst zeigte sich über den Vorschlag entsetzt. Der Eingang müsse für alle Besucher bleiben, wo er ist, nämlich an der Straße der Nationen, sagt Sprecher Horst Seferens. Von dort gelangen die Besucher zur „Lagerstraße“, die zu dem berüchtigten Tor führt. „Der Weg richtet sich nach dem historischen Weg der Häftlinge vom Bahnhof zum Lager.“ Auch sei der Besuch der Gedenkstätte didaktisch so aufgebaut, dass man den Rundgang in dem dort gelegenen Besucherzentrum beginnen sollte.

So sieht es auch das Internationale Sachsenhausen-Komitee, die Interessenvertretung der ehemaligen Häftlinge. Generalsekretär Dik de Boef erklärte bereits im Sommer: „Das Konzept der Gedenkstätte folgt dem historischen Weg der Häftlinge.“ Brandenburgs Kulturministerin Martina Münch (SPD) schloss sich dem an. „Der Eingang zur Gedenkstätte ist nicht verhandelbar“, erklärte sie.

Das mit dem historischen Weg ist aber womöglich nicht so eindeutig, wie es zunächst scheint. Anwohner Schluß sagt, die meisten Häftlinge seien über die heutige Hans-von-Dohnanyi-Straße, eine Parallelstraße zur Straße der Nationen, oder sogar vom Bahnhof Sachsenhausen ins Lager gekommen. Als die Gedenkstätte 1961 eingerichtet wurde, so Schluß, sei der Truppenteil des alten Lagers von der NVA benutzt worden. „Daher hat man den Gedenkstätteneingang in die ehemalige Jägerstraße gelegt, die nun Straße der Nationen heißt.“

Oranienburgs Bürgermeister sieht das offenbar ähnlich. „Die Zuwegung zur Gedenkstätte stellt dem Vernehmen nach eine Verlegenheitslösung aus der DDR-Zeit dar“, schrieb er in einem Brief an den für den öffentlichen Nahverkehr zuständigen Landrat, den Stiftungsdirektor der Gedenkstätte sowie den AnwohnerInnen. Dem Brief hängte er drei Lösungsvorschläge an, die aus Sicht der Stadt infrage kämen.

Suche nach Kompromissen

Einer der Vorschläge kam bei einer AnwohnerInnenversammlung im Oktober besonders gut an, im Protokoll des Treffens firmiert er unter „Kompromisslösung“. Die Idee: Der 804er-Bus fährt nicht mehr durch die Anwohnerstraße, sondern lässt die Gedenkstättenbesucher an der Hauptstraße vorher aussteigen. Die restlichen rund 500 Meter müssten sie zu Fuß gehen.

Zusätzlich nimmt die Buslinie 805 die Besucher vom Bahnhof bis zum Finanzamt mit. Auch die Reisebusse könnten dort ihre Gäste aussteigen lassen und in der Nähe parken. Ein Weg könnte von dort bis zum Besucherzentrum der Gedenkstätte führen, das nicht verlegt werden müsste. Auch die Besucherführung über die „Lagerstraße“ bliebe unverändert. Gedenkstättensprecher Seferens hält allerdings auch von diesem Vorschlag nichts. „Entscheidend ist, dass die BesucherInnen dann der Sogwirkung der Lagerstraße folgen und das Besucherzentrum links liegen lassen. Aber nur, wenn sie sich dort mit grundlegenden Informationen versorgen, kann die Gedenkstätte ihrem Anspruch als historischer Lernort gerecht werden.“

Außerdem sei es wichtig, so Seferens, dass der Weg der Besucher vorher durch das Wohngebiet führe. So könnten sie empirisch erfahren, dass die Häftlinge unter den Augen der Bevölkerung ins KZ getrieben wurden. Der historische Weg sei zwar die Dohnanyi Straße gewesen, gibt er zu. Aber da sie eine Sackgasse ist, stehe sie als Zufahrt nicht zur Verfügung, erklärt der Gedenkstätten­sprecher. Schluß ergänzt: Die Sackgasse gebe es nur, weil die Gedenkstätte selbst vor einigen Jahren ein Tor anbringen ließ.

Die Gedenkstätte hat ihrerseits wiederum vorgeschlagen, dass die Straße der Nationen asphaltiert wird, der Bus öfter fährt und ein neuer Parkplatz für die Reisebusse abseits des Wohngebietes gebaut wird. Davon wollen wiederum die AnwohnerInnen nichts wissen: Auf der erwähnten Versammlung war niemand für diesen Vorschlag.

Wie die Sache ausgeht, ist nicht ausgemacht, viele Interessen widersprechen einander. Da ist etwa die Oberhavel Verkehrs Gesellschaft OVG: Sie bekommt ihr Geld anteilig vom VBB, von einem verbesserten Angebot in Oranienburg profitiert sie also nicht. Im Winter hatte die OVG eine Fahrgastbefragung in der Linie 804 machen lassen. Ergebnis: Zwar gebe es viel Bedarf, aber das Angebot decke selbst zu „Spitzenzeiten“ die Nachfrage.

Zum gegenteiligen Schluss kam ein Gutachten der Technischen Hochschule Wildau – im Auftrag von Gedenkstätte und Kultusministerium: Die Busverbindung sei dringend verbesserungswürdig, so die Verkehrsexperten. Sie empfahlen keine Taktverdichtung im ÖPNV, sondern einen zusätzlichen Bus-Shuttle direkt vom Bahnhof zur Gedenkstätte.

Angesichts der Vielzahl von Vorschlägen kam ein erstes Treffen aller Beteiligten im Oktober bei der Kultusministerin zu keinem Ergebnis. Oder doch: Die „verschiedene Varianten“ sollten „näher untersucht werden“.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.