Gedichteschreiben nach Auschwitz: Mach wieder Wasser aus mir

Vor dreißig Jahren starb Rose Ausländer. Die deutsch-jüdische Lyrikerin überlebte Schoah, Vertreibung und Verstummen.

"Arbeit macht frei"-Schriftzug am Haupttor des ehemaligen KZ Auschwitz-Birkenau

Keine Lyrik nach Auschwitz, lautete Adornos Diktum. Rose Ausländer sah das anders Foto: dpa

Es waren ihre Augen und ihre Stimme, die andere Menschen in Bann schlugen, sagt Helmut Braun. „Dunkle, fast schwarze Augen und eine harte, ebenso dunkle Stimme, in der der ganze Osten war.“

Der heute bei Siegburg lebende Braun hat diese Stimme oft gehört, in diese Augen oft geschaut. Ab 1976 war er Rose Ausländers Verleger, ab 1980 dann Herausgeber ihrer Bücher im S. Fischer Verlag, seit ihrem Tod im Jahr 1988 ihr Nachlassverwalter. Heute leitet der 69-Jährige die Rose-Ausländer-Gesellschaft in Köln.

Als Braun die Dichterin 1977 kennenlernt, ist sie noch weitgehend unbekannt. Sie hat veröffentlicht, sogar ein paar Auszeichnungen erhalten. Doch ihr Name ist allenfalls einer Handvoll fanatischer Lyrikfans ein Begriff.

Den Tipp bekommt er von einem Bekannten. Da gebe es eine Dame in einem Düsseldorfer Altenheim, die wunderbare Gedichte schreibe. Sie sei Jüdin, der Schoah entkommen, habe lange in New York gelebt. Und sie suche einen Verleger.

Die Dame im Pflegeheim, über Nacht berühmt

Braun ist 28, hat gerade seinen eigenen kleinen Verlag gegründet. Er liest die Gedichte – und sie lassen ihn nicht los. Er besucht die alte Frau. Die Begegnung wird zu der prägenden literarischen Begegnung seines Lebens. Für Rose Ausländer ist es eine Zäsur, die sie zur gefeierten Autorin macht. Der gemeinsam mit Braun publizierte Lyrikband „Gesammelte Gedichte“ löst Begeisterung aus. Über Nacht ist Rose Ausländer bekannt.

Als sie auf Helmut Braun trifft, ist die eigenwillige Dichterin bereits 75 Jahre alt. Schon bald wird sie der Welt den Rücken kehren. Sie liest keine Zeitungen mehr, geht nicht ans Telefon, weist Besuche schroff ab, bleibt schließlich – obwohl leidlich gesund – ganz im Bett liegen. Nur Lyrik interessiert sie noch, vor allem die eigene, noch zu schreibende.

Foto: dpa

Für den jungen Braun sind es magische Stunden. Aufgestützt auf Berge von Kissen, die Finger von Arthrose komplett steif, diktiert die Greisin ihm mit ihrer dunklen Oststimme ihre bisher unveröffentlichten Gedichte – streng, genau, ihrer Wirkung bewusst.

Manchmal nimmt sie sich ein beschriebenes Blatt, steckt einen Stift zwischen Zeige- und Mittelfinger und malt ergänzende Zeichen in Steno darauf. Rund 800 Gedichte kommen so zusammen. Sie haben immer weniger Worte. Das letzte lautet: „Der Traum/ lebt/ mein Leben/ zu Ende.“ Die Ruhe und Klarheit solcher Zeilen sind erstaunlich. Denn Rose Ausländers Leben war alles andere als ruhig und klar.

Suche nach Zugehörigkeit und Mutterliebe

Rosalie Beatrice Ruth Scherzer, so ihr Mädchenname, wächst als Kind jüdischer Eltern in Czernowitz auf. Heute ist diese Stadt ukrainisch, zu jener Zeit Teil des österreichischen k.u.k.-Reichs.

Früh zeichnet sich ab, dass ihr Leben von großer Unruhe bestimmt sein wird. Schon im Ersten Weltkrieg muss sie mit den Eltern und dem Bruder vor­übergehend nach Wien fliehen. Auch später prägen Ortswechsel ihr Leben. Die seelischen Fixpunkte dagegen sind immer dieselben: die Suche nach Zugehörigkeit. Und schmerzhaft vermisste Mutterliebe.

Die Begegnung mit Braun ist für Rose Ausländer eine Zäsur, die sie zur gefeierten Autorin macht

Zurück in Czernowitz studiert Rose Ausländer Philosophie und Literatur. Sie beginnt früh zu schreiben, erst Tagebuch, dann Gedichte und Märchen. Schreiben sei ihr ein zwingendes Bedürfnis, „ein Trieb“ sei das, wird sie später sagen.

1920 stirbt der Vater. Danach geschieht etwas, das die damals Neunzehnjährige ihr Leben lang kränken wird: Die schon immer als kühl und fern erlebte Mutter drängt sie aus materiellen Gründen energisch zur Ausreise in die USA. „Sie muss das als Verstoßung empfunden haben“, ist Helmut Braun überzeugt. Die Mutter wird ein Leben lang Thema ihrer Gedichte sein: „Nacht für Nacht höre ich sie/ im Garten meines schlaflosen Traumes“.

Überleben im Getto

Das Glück bleibt aus in der Neuen Welt. Rose Ausländer verdient ihr Geld mal als Buchhalterin, dann als Redakteurin in einem Kalenderverlag in Winona, wo sie erstmals Gedichte veröffentlicht, schließlich als Bankangestellte in New York. 1926 wird sie amerikanische Staatsbürgerin. Unerfüllt ist die kurze, blasse Ehe mit dem ebenfalls ausgewanderten Jugendfreund Ignaz Ausländer, von dem sie nach der Scheidung den Namen behält. Auch ihre große Liebe zu dem Grafologen Helios Hecht scheitert. Mit ihm war sie 1931 nach Czernowitz zurückgekehrt.

Sie lebt zunächst erneut in der Heimatstadt, später vorübergehend in Bukarest. Regelmäßig publiziert sie Gedichte in Zeitungen. Sie gibt Englischunterricht, hat als „Frau Ruth“ eine Lebensberatungskolumne in einer Tageszeitung. 1939 erscheint ihr erster Gedichtband. Er bleibt in Deutschland, wo Juden nicht mehr gelesen werden, ohne Echo.

Dann bricht der Schrecken in das Leben der mittlerweile 40-Jährigen herein. 1941 marschieren SS-Truppen in Czernowitz ein, Rose Ausländer wird ins Getto verbannt. Ein befreundeter Arzt verschafft ihr eine Stelle in einer Augenklinik, die sie vor der Deportation durch die mit Deutschland alliierten Rumänen schützt. Am Ende lebt sie mit ihrer Mutter in Kellerverstecken bis zur Befreiung durch russische Truppen im April 1944.

Helmut Braun

„Dunkle, fast schwarze Augen und eine harte, ebenso dunkle Stimme, in der der ganze Osten war“

Krank und seelisch angeschlagen zieht sie wieder zurück nach New York. Dort lebt sie 20 Jahre zurückgezogen, verlässt kaum ihr Viertel. Sie arbeitet als Fremdsprachenkorrespondentin in einer Schiffs­spedition. Träumt mit anderen Exilanten von der Heimat.

Zurück zur Mördersprache

Wahrgeworden/ die Weissagung der Zigeunerin/ Dein Land wird/ dich verlassen/ du wirst verlieren/ Menschen und Schlaf/ wirst reden/ mit geschlossenen Lippen/ zu fremden Lippen/ Lieben wird dich/ die Einsamkeit/ wird dich umarmen.“

In Deutsch, der „Mördersprache“, kann Rose Ausländer in New York lange nicht ­schreiben. Ihr fällt nichts ein, ihr Kopf ist leer. Um 1949 kommen dann doch erste Zeilen – auf Englisch. Nach einem Schreibworkshop bei der deutschstämmigen Schriftstellerin Marianne Moore dann die beglückende Wende: „Die alte Sprache/ kehrte jung zurück// Unser verwundetes/ geheiltes/ Deutsch.“

Nach und nach gelingt ihr die lyrische Bewältigung der quälenden Erinnerungen an den „gelben Stern/ auf dem wir stündlich starben“. Alles ist sagbar. Auch nach unsäglichem Grauen. Diese Überzeugung unterscheidet Ausländer von anderen Dichtern, die die Schoah überlebten. Aber die Erfahrungen verändern ihren Stil.

Sie löst sich vom Reim, streicht immer mehr Zeilen. Ihre Gedichte entwickeln die für sie typische magische Schlichtheit, geformt von Ur- und Wurzelworten wie Atem und Erde, Rose und Luft, Mutter, Geburt, Traum, Nacht, Stern und Mond: „Mach wieder/ Wasser aus mir// Strömen will ich/ im Strom// ins Meer münden.“

Sie bleibt ihr Leben lang eine Einzelgängerin

Sie ist schon 64, da zieht sie die Sehnsucht nach der deutschen Sprache endgültig nach Europa zurück, erst nach Wien, dann nach Düsseldorf: Dort leben rund 200 Juden aus Czernowitz. Doch selbst unter ihnen bleibt sie fremd, eine Einzelgängerin.

Heute wird Rose Ausländer auch von jungen Menschen gelesen. Gedichte wie „Noch bist du da“ gehören zum klassischen Lehrkanon an Gymnasien. Auch übersetzt wird die Dichterin noch immer. In derzeit 70 Sprachen kann man ihre Gedichte lesen.

Zum 30. Todestag am 3. Januar erscheint von Helmut Braun das Buch „Rose Ausländer – Der Steinbruch der Wörter“ in der Reihe „Jüdische Miniaturen“ (bei Hentrich & Hentrich, 8,90 Euro). Ein Hörbuch versammelt die berühmtesten Gedichte – gelesen von der Schauspielerin Alicia Fassel und der Dichterin selbst, untermalt mit moderner Klezmer-Musik von Jan Rohlfing („Wirf deine Angst in die Luft, Griot Hörbuchverlag, 19,80 Euro). Die Stadt Düsseldorf benennt im Mai eine Straße nach der Poetin. Helmut Braun ist sicher: „Das würde sie freuen.“

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