Gemeinsames Trauern im Netz: Das Leiden der Anderen

Wir reagieren nicht nur auf Trauerfälle in unserer Nähe, sondern potenziell auf jedes Attentat. Kollektiv, im Netz. Oft geht es dabei weniger um Trost.

Frankreichflagge wird in der iPhone App von Amazon gezeigt

Nach den Terroranschlägen von Paris: iPhone App von Amazon mit französischer Trikolore Foto: imago/Rüdiger Wölk

Es ist etwas Entsetzliches geschehen. Unablässig geschieht Entsetzliches. Schon klar, der Tod ist groß. Wir sind die Seinen, lachenden Munds. Wenn wir uns mitten im Leben meinen, wagt er zu weinen, mitten in uns. Als Hinterbliebenen mag’s mich trösten, wenn ich in der Post eine Trauerkarte mit der ungelenken Handschrift der fernen Tante finde: „Ich fühle mit dir …“

Damit tat die Tante, was Sitte ist und was „man“ eben so tut, nämlich den Konventionen Genüge. Meinerseits entspreche ich den gleichen Konven­tio­nen, indem ich das Beileid als „Trost“ verbuche – wobei das Gefühl, wenn ich präzise wäre, eher eine zarte Rührung darüber ist, dass die Tante „Beileid“ mit einem Schmerz zu empfinden behauptet, den sie in ihrer Ferne doch unmöglich teilen kann. Schmerz ist unteilbar. Um den Ritus abzuschließen, werde ich ihr dennoch demnächst für ihre Anteilnahme danken. Meine Karte wird die Quittung sein, die den Handel erst perfekt macht.

Die sozialen Medien haben dieser subtilen Ökonomie von Leid und Mitleid nun einen globalen Markt aufgeschlossen. Und auf diesem erweiterten Spielfeld wird derzeit neu verhandelt, was wir unter Sepulkralkultur zu verstehen haben. Ich reagiere nicht mehr nur auf den konkreten Trauerfall in meiner Nähe, sondern potenziell auf jede tödliche Katastrophe, die mir medial nahe gebracht wird. Was sich „Netzgemeinde“ oder „Community“ nennt, fällt im Krisenfall mit einem erweiterten Familienbegriff zusammen. Ich fühle mich betroffen, auch wenn ich es nicht bin.

Ist das teilbar?

Zugleich fühle ich mich sozial verpflichtet, dieser Betroffenheit einen Ausdruck zu verleihen. Längst ist es uns zur zwanghaften Gewohnheit geworden, jede positive Wahrnehmung auf ihre „Teilbarkeit“ in sozialen Netzwerken zu überprüfen und damit zu entkernen. Inzwischen hat dieser Druck auch negative Empfindungen erfasst. Wut, Trauer und Empörung werden mitteilungswürdig. Ich halte sie ins Licht der digitalen Öffentlichkeit und damit weit weg von mir.

Wenn Trauer etwas mit Arbeit zu tun hat, dann ist diese Arbeit neuerdings schnell erledigt. Dann wird mit ein paar Klicks das Profilbildchen auf Kondolenz gebürstet; und fertig. „Like mich am Arsch“, wie es bei Deichkind heißt. Hier waltet eine ähnliche Dynamik wie auf dem Dorf in Kampanien oder im Schwarzwald, wo alle Bewohner sich schwarz kleiden, wenn die Frau des Schneiders gestorben ist. So weit, so gut, weil soziohygienische Sitte.

Die Probleme beginnen dann, wenn aus „Ich fühle mit dir“ unversehens „Ich bin du“ wird – wie mit „Je suis Charlie“ geschehen und seitdem in immer neuen Spielarten aktualisiert.

Ich habe nur eine ungefähre Ahnung davon, wer „ich“ selbst überhaupt bin. Aber ich weiß sehr genau, wie ich gesehen werden will. Wenn ich mein Profilbild durch die Trikolore, die Regenbogenfahne oder das Atomium ersetze, leite ich gewissermaßen das Leid der Anderen auf mein eigenes Konto: „Ich hocke zwar nur zu Hause vor meinem Rechner. Aber ich bin auch Charlie! Mich habt ihr vergessen! Ich habe überlebt!“ Und plötzlich sind wir alle ferne Tanten, die den Verstand verloren haben – und so tun, als hätte es sie selbst erwischt.

Narzisstisches Ummünzen von privatem Leid

So verwandelt sich Anteilnahme in einen Akt der Aneignung, der mir zur Selbstvergewisserung und Selbstverortung dient. Dass diese übergriffige Anverwandlung fremden Leidens selbst ein Akt parasitärer Gewalt sein könnte, kommt mir dabei nicht in den Sinn. Zu stark ist die Suggestion, dass „ich“ viele sind, fast alle meine Freunde, wir sind eine riesige Trauergemeinde, eine überwältigende Mehrheit. Was wir mit diesen arithmetischen Zeichenspielchen zu „überwältigen“ glauben, ist das Böse selbst – von dem wir ganz gewiss kein Teil sein wollen. Wobei es den bösen Raubfisch kaum kümmert, wenn sich der Schwarm von seiner Gegenwart erregen lässt. Im Gegenteil.

Dieses narzisstische Ummünzen von privatem Mitleid in kollektiviertes Selbstmitleid hat noch ganz andere Folgen. Medial vermittelte Erregung ist nicht einmal mehr ein Angebot, das ich annehmen oder ablehnen kann. Erregung wird zur ersten Bürgerpflicht, die Trauer­mo­bilmachung total. Wer nicht wenigstens einen bedauernden Tweet absetzt, wenn’s irgendwo knallt, wer also nicht mit einem eigenen Beitrag in den Chor der Empörten einfällt, fällt meiner ausgestellten Betroffenheit in den Rücken.

Schließlich ist mein Standpunkt auf der moralisch sicheren Seite umso sicherer, je mehr Menschen ihn teilen. Hier wird ein Imperativ wirksam, wie wir ihn von nationaler Trauerbeflaggung kennen. Sie bezieht ihre pathetische Wucht aus der Gewissheit, dass die Fahne auch wirklich an jeder Stange im Land auf Halbmast hängt. Wehe dem Bürgermeister oder Amtsleiter, der sich dieser Anordnung entzieht.

In der Seefahrt übrigens, aus der sich der Flaggenquatsch an Land gerettet hat, bedeutet der Halbmast das Eingeständnis einer Niederlage im Gefecht. Um eben diesen Eindruck im digitalen Diskurs zu vermeiden, geben wir uns gerne symbolisch wehrhaft und ungebrochen. Da verschließt dann die „spitze Feder“ des Karikaturisten den Lauf der Kalaschnikow und pinkelt das Manneken Pis auf die Zündschnur. Pfeifen im Walde.

Konkurrierende Trauer

Der enorme Restschwung des Affekts aber, mit dem ich mich „solidarisch“ erkläre, lässt mich auch jeden Einwand gegen dieses Ritual beiseitewischen. Problematisch ist dabei nicht der gratismutige Bekenntnisdrang. Sondern der Bekenntniszwang und dessen selbstgerechte Gedankenlosigkeit, die den kalt kalkulierenden Terroristen in genau der Währung entlohnt, auf die er spekuliert hat – Erregung.

Private Trauer ist ein Ding der Unmöglichkeit geworden, purer Defätismus. Trauer hat eine öffentliche Gemeinschaftsleistung zu sein oder gar nichts. Es stimmt schon, was Horkheimer und Adorno feststellten: „Was allen Gefühlen widerfährt, die Ächtung dessen, was keinen Marktwert hat, widerfährt am Schroffsten dem, woraus nicht einmal die psychologische Wiederherstellung der Arbeitskraft zu ziehen ist, der Trauer“.

Wie wäre der Marktwert der Trauer zu steigern? Indem ich sie für mich und mein Anliegen einspanne und arbeiten lasse, gern auch gegen konkurrierende Trauer. Deshalb schwärmen nach jedem neuen seismischen Ausschlag auf der nach oben offenen Erregungsbebenskala hypermoralische Fahnder aus wie Feldjäger auf der Suche nach Deserteuren, die sich der dauerhaften Emo-Mobilmachung entziehen – durch mangelhaftes Ausstellen ihrer Anteilnahme oder, was noch schlimmer ist, das Setzen falscher Zeichen.

Früher New York, London und Madrid. Vorgestern erst Paris, gestern Brüssel, heute Istanbul. Oder war es umgekehrt? War nicht auch Nairobi oder Bagdad, so zwischendurch? Und ist nicht eigentlich immer Somalia und Syrien sowieso? Wieso trauert, wer für Paris gebetet und Brüssel beweint hat, nicht auch um die Opfer von Istanbul? Du bist „Charlie“? Warum nicht „Ahmed“?

„Wen kümmert’s?“

Sobald Tränen als Gradmesser für die Wucht und Wichtigkeit eines Anschlags anerkannt sind, haben wir es mit einem Markt zu tun. Eine virtuelle Börse, auf der konkurrierende Katastrophen aufmerksamkeitsökonomischen Schwankungen unterliegen. Meine Anteilnahme macht mich zum Anteilseigner. Ist das Leid der Anderen erst einmal als Produkt etabliert, lassen das Portfolio meiner Traueraktien und ihre Streuung vermeintlich Rückschlüsse auf meine Weltanschauung zu – von „Oh mein Gott, was für eine schreckliche Tragödie!“ (Europa) bis „Wen kümmert’s?“ (Afrika).

So mache ich mich beispielsweise des „Eurozentrismus“ verdächtig, wenn mich ausweislich meines Twitter-Accounts ein IS-Anschlag in Dhaka weniger berührt als ein Hochwasser in Detmold. Und als homophob wird markiert, wer Orlando nicht rechtzeitig und ausdrücklich per Regenbogenfahne als gezielten Anschlag auf die LGBTQ-Community verbucht und so seine leisen Zweifel hat, ob der Gebrauch eines militärischen Sturmgewehrs durch ein krankes Arschloch wirklich als Symptom für und logische Konsequenz von gesellschaftlicher Diskriminierung sexueller Minderheiten zu lesen ist. Keine fiktive Affektgemeinschaft ohne Jagd auf vermeintliche Abweichler.

Erregung ist nur die halbe Miete. Chaos ist die andere Hälfte, und die treiben wir schon selbst ein. Aber es nützt ja nichts: „Du kannst dich zurückhalten von den Leiden der Welt, das ist dir freigestellt und entspricht deiner Natur“, schreibt Kafka: „Aber vielleicht ist gerade dieses Zurückhalten das einzige Leid, das du vermeiden könntest“.

Dieses Leid nicht vermeiden zu wollen macht uns erst zu mitfühlenden Wesen. Es wagt nun einmal zu weinen, mitten in uns. Und dabei macht es keinen Unterschied, ob wir unsere Tränen twittern oder mit ihnen still ein Apfelbäumchen bewässern. Wir sollten nur nicht der Illusion erliegen, damit das Böse wegschwemmen zu können – und der Versuchung widerstehen, den ganzen Rotz in einer Waagschale aufzufangen und darin herumzurühren.

Denn morgen wird wieder etwas Entsetzliches geschehen.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.