Grüne reagieren auf Piraten in NRW: „Wir sind doch nicht ignorant“

Im Angesicht der Piraten: Vor den Landtagswahlen in Nordrhein-Westfalen fordert die grüne Spitzenkandidatin Sylvia Löhrmann eine ökologisch-industrielle Revolution.

Die Grünen nehmen die Herausforderung der Piraten im NRW-Wahlkampf an. Bild: reuters

Frau Löhrmann, tragen Sie eigentlich aus Gründen der Corporate Identity stets einen grünen Blazer oder weil sie ihn wirklich schön finden?

Sylvia Löhrmann: Beides. Ich mag die grüne Farbe wirklich, sie hat etwas Beruhigendes. Ich habe aber auch vieles in Blau. Doch wenn man schon in einer so tollen Partei ist, kann man das auch äußerlich zum Ausdruck bringen.

Ihre Partei finden inzwischen nicht mehr so viele toll. Nach der jüngsten Umfrage stehen die Grünen in NRW nur noch bei 11 Prozent, vor einem Jahr waren es noch bis zu 24 Prozent. Was haben Sie falsch gemacht?

Als die Umfragen für uns besonders hoch waren, gehörte ich zu jenen, die gesagt haben: Leute, bleibt auf dem Teppich. Auch jetzt lasse ich mich nicht von den Demoskopen verrückt machen. Entscheidend ist, was am 13. Mai nach 18 Uhr ausgezählt wird.

Bereuen Sie es denn nicht schon, Neuwahlen provoziert zu haben?

Wir haben nichts provoziert und nichts inszeniert. Man darf mit Neuwahlen nicht spielen. Das ist eine Frage der politischen Glaubwürdigkeit. Der Maßstab für Grüne und SPD war einzig und allein: Bleibt die rot-grüne Minderheitsregierung handlungsfähig? Das war nach der Ablehnung unseres Haushalts in der zweiten Lesung nicht mehr gegeben. Es ist an der Zockerei der FDP gescheitert.

ist ein nordrhein-westfälisches Heimatgewächs: 1957 in Essen geboren, arbeitete sie seit 1984 als Lehrerin für Englisch und Deutsch in Solingen und trat 1985 bei den Grünen ein. Die Mühen des politischen Alltags erlebte sie in den achtziger Jahren als grünes Ratsmitglied von Solingen. 1995 wurde sie als Abgeordnete in den Düsseldorfer Landtag gewählt. Im November 2009 stellte ihre Partei sie erstmals als nordrhein-westfälische Spitzenkandidatin auf. Seit Juli 2010 war sie Ministerin für Schule und Weiterbildung und Vizeministerpräsidentin in der rot-grünen Minderheitsregierung, die im März dieses Jahres platzte.

Ihre schwächelnden Umfrageergebnisse liegen im Bundestrend. Wie zufrieden sind Sie sie eigentlich mit Ihrem Berliner Spitzenpersonal?

Ich bin froh darüber, dass wir in Berlin mehrere authentische und glaubwürdige Führungspersönlichkeiten haben, die für unterschiedliche Zielgruppen und Themenfelder stehen – von gelungener Integration über Verbraucherschutz bis hin zu Finanz- und Europakompetenz.

Wen wünschen Sie sich als Spitzenkandidatin oder -kandidaten?

Ich wünsche mir ein Duo.

Sie meinen also Sebastian Nerz und Marina Weisband? Die Piraten rangieren ja inzwischen vor Ihrer Partei.

Wohl kaum. Die Umfrageschwankungen zeigen doch nur, dass sich niemand einbilden kann, Wählerinnen und Wähler für immer gepachtet zu haben. Selbstverständlich ist die Piratenpartei für uns eine Herausforderung. Auch wenn es vornehmlich ihre Anmutung ist, die im Moment den Zuspruch auszumachen scheint, und weniger die Frage der inhaltlichen Konsistenz ihres Programms, setzen wir uns sachlich mit ihnen auseinander.

Haben Sie sich mal das Programm der Piraten angeschaut?

Wir sind doch nicht ignorant. Deshalb hat mich auch die Aussage des FDP-Spitzenkandidaten Christian Lindner schon verwundert, dass er die Piratenpartei nicht ernst nehmen würde. Gerade er sollte sie ernster nehmen, weil nicht unwesentliche Teile von Zuschreibungen, die bei der FDP mal verortet waren, auf die Piratenpartei zutreffen. Es ist kein Zufall, dass Manche aus der Piratenpartei sich selbst als „die neue FDP“ bezeichnen.

Manche erinnern die Piraten eher an die frühen Grünen.

Vielleicht oberflächlich betrachtet und meinetwegen auch in Bezug auf ihren basisdemokratischen Anspruch. Aber damit können wir selbstbewusst umgehen: Wer hat denn die Basisdemokratie erfunden?

Zeigt der Erfolg der Piraten nicht ein großes Bedürfnis nach mehr Basisdemokratie?

Das Prinzip, wir machen Betroffene zu Beteiligten, gab es schon vor der Piratenpartei. Wir haben mit der rot-grünen Minderheitsregierung mehr direkte Demokratie in Nordrhein-Westfalen durchgesetzt: von der Erleichterung von Bürgerbegehren bis zu der Schaffung der Möglichkeit, dass Bürgerinnen und Bürger selbst die Abwahl von Bürgermeistern einleiten können.

Schmerzt es Sie nicht, dass die Grünen inzwischen auch in NRW hinter den Piraten liegen?

Die entscheidende Frage ist doch: Will man einer Regierung, die gute Arbeit geleistet hat, jetzt eine klare Mehrheit geben, damit sie ihre Arbeit fortsetzen kann? Oder riskiert man aus einem diffusen Gefühl heraus, es „denen da oben“ mal zeigen zu wollen, am Ende bei einer großen Koalition zu landen? Darum geht es am 13. Mai.

Hat man den Grünen in ihrer Gründungszeit nicht auch entgegengehalten: Lieber weiter das kleinere Übel SPD wählen, denn wer Grün wählt, wählt Franz Josef Strauß?

Also bei allem Respekt: Die Grünen hatten schon 1980 ein Konzept für den ökologischen Umbau der Industriegesellschaft – und dieses Konzept ist heute in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Die Piratenpartei sagt hier mal dies und dort mal jenes. Ökologische, feministische und soziale Fragen beantworten sie gänzlich unterkomplex. Und was die Finanzen angeht, halte ich es mit meinem Kollegen Reiner Priggen: Gegenüber der Piratenpartei ist die Linkspartei ein Sparschwein. Da sah das inhaltliche Angebot der Grünen bei aller Heterogenität meiner Partei immer anders aus. Im Übrigen tritt die Piratenpartei, wie auch die FDP, mit einer Männercrew an. Bei uns stehen die Frauen in der ersten Reihe – und zwar schon immer. Auch auf diesen Unterschied lege ich Wert!

Rechnen Sie weiter fest damit, dass Sie auch der nächsten Landesregierung angehören?

Unser Ziel ist das natürlich. Die Bilanz der rot-grünen Minderheitsregierung ist gut. Wir haben in den vergangenen zwanzig Monaten vieles erreicht: von der Abschaffung der Studiengebühren über Windkrafterlass und kommunalem Rettungsschirm bis zum Schulkonsens. Gleichwohl gibt es Unwägbarkeiten: Es könnten nur drei, aber auch sechs Fraktionen im kommenden Parlament sein. Dann könnte es schwierig werden. Wenn es keine klare Mehrheit für Rot-Grün gibt, droht die große Koalition. Das wäre dann die wahrscheinlichste Variante. Das muss den Wählerinnen und Wählern klar sein.

Könnten Sie dann nicht immer noch eine Ampel machen?

Wenn meine Oma Räder hätte, wäre sie ein Fahrrad. Lindner behauptet, die FDP habe sich runderneuert. Doch das ist eine Mogelpackung. Es sind alles die gleichen Gestalten, und die FDP hat sich auch inhaltlich nicht verändert. Im Bundestag hat Herr Lindner alles immer mitbeschlossen, was für NRW schädlich ist, ausnahmslos. Insofern ist er ein typischer FDP-Apparatschik. Wenn Herr Lindner etwas kann, dann den Mist, den FDP in Land und Bund angerichtet hat, schönzureden. Dieser Mann hat keine Substanz und sollte in Nordrhein-Westfalen keine Verantwortung tragen.

Sehen Sie es eigentlich als Anerkennung ihrer Arbeit in der Landesregierung, dass Ex-SPD-Ministerpräsident Wolfgang Clement jetzt Wahlkampf für die FDP macht?

Das macht es noch mal einen Tick herausfordernder, weil Wolfgang Clement für die alte antiökologische Beton-SPD steht. Insofern ist es gut, dass Herr Clement mit seiner Unterstützung der FDP deutlich macht, wie viel altes Denken bei der FDP verwurzelt ist. Wir brauchen eine ökologisch-industrielle Revolution – die Grünen sind dafür die Antriebsfeder. Wir stehen für eine neue grüne Industriepolitik und nicht die alte von Clement & Co.

Bei aller demonstrativen Harmonie zwischen Frau Kraft und Ihnen: Es gibt doch auch handfeste Differenzen zwischen SPD und Grünen.

Wir haben keine Fundamentalkonflikte mehr, sondern eine Gesamtlinie, die ähnlich ist. Aber natürlich gibt es Unterschiede, die liegen besonders im Bereich der Energie- und im Bereich der Mobilitätspolitik. Bisher sind uns jedoch immer Verständigungen gelungen. Das wird auch weiter so sein.

Eine Differenz ist der Umgang mit der Urananreicherungsanlage in Gronau, die immerhin jedes zehnte AKW weltweit mit Brennelementen beliefert. Wann steigt Rot-Grün endlich aus der Atomenergie aus?

Die Urananreicherungsanlage ist ein Problem, keine Frage. Unsere Wähler können sich darauf verlassen, dass das für uns ein wichtiges Thema ist, bei dem wir umsetzen wollen, was möglich ist. Aber ich kann kein Versprechen in die Welt setzen, dass wir Gronau morgen stilllegen. Dazu fehlen der Landespolitik die Möglichkeiten. Aber wir haben die Anlage mit eingebracht in die Gespräche über den Ausstieg aus der Atomenergie. Diese Frage kommt auch bei Koalitionsverhandlungen natürlich wieder auf den Tisch. Ein Problem ist allerdings auch der etwas zögerliche Bundesminister, der für die Atomaufsicht zuständig ist. Um das mal vorsichtig zu formulieren. Herr Röttgen redet zwar manchmal grün, aber er handelt nicht grün. Zwei Attribute passen genau auf ihn: Wankelmut und Unglaubwürdigkeit.

Das klingt nach enttäuschter Liebe. Sie galten mal als Anhängerin von Schwarz-Grün.

Quatsch, ich verstehe die Grünen als eine eigenständige politische Kraft, die sich nicht über die Nähe oder Distanz zu irgendwem definiert. Aber es ist doch klar: Die Zusammenarbeit mit der SPD hat sich bewährt. Das führt uns zu einer klaren Wahlaussage: Wenn Rot-Grün geht, dann machen wir das – mit hoffentlich starken Grünen. Punkt. Alles andere steht doch überhaupt nicht zur Debatte. Ich habe persönlich nichts gegen Herrn Röttgen, wie ich auch persönlich nichts gegen Herrn Lindner, Frau Schwabedissen oder Herrn Paul habe. Aber ich finde, das Land ist mit einer Regierung aus Grünen und SPD in guten Händen.

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