Grüne wählen Ströbele-Nachfolgerin: Das Vermächtnis

Die Grünen in Friedrichshain-Kreuzberg nominieren Canan Bayram als Bundestagskandidatin. Ströbele mahnt zum Abschied zu linker Politik.

Canan Bayram

Hat gute Chancen, wie Ströbele das Bundestags-Direktmandat in Friedrichshain-Kreuzberg-Prenzlauer Berg Ost zu holen: Canan Bayram Foto: dpa

Zweite Stuhlreihe, vorne links. Canan Bayram sitzt auf diesem Platz in einer Kreuzberger Tanzschule, wo an diesem Samstagvormittag die örtlichen Grünen tagen. Prominent, aber nicht ganz vorne. So wie in der Abgeordnetenhausfraktion: nicht Fraktionsführung, aber sehr prägend.

Mit dem Zweite-Reihe-Dasein hat es an diesem Morgen allerdings ein Ende: Bayram, die 51-jährige türkeistämmige Flüchtlingspolitikerin, ist die neue Ströbelin. Die Frau, die auf Hans-Christian Ströbele folgt und wie er den Wahlkreis Friedrichshain-Kreuzberg-Prenzlauer Berg Ost gewinnen soll. Den einzigen, in dem ihre Partei das bisher schaffte.

Seit Ströbele im Dezember angekündigt hat, dass er sich mit jetzt 77 nicht noch eine weitere vierjährige Wahlperiode im Bundestag antun will, war ziemlich klar, wie seine Nachfolge aussehen soll: wie Ströbele eben, bloß am besten weiblich, Migrationshintergrund käme auch gut. Über 1.000 Mitglieder haben die Grünen in dem Wahlbezirk, und um zu kandidieren, muss man gemäß Wahlrecht noch nicht mal aus Kreuzberg sein – Ströbele selbst hatte dort nie eine Wohnung.

Das gewünschte Profil brachte sofort Bayram in den Fokus. Umso mehr, als der über viele Jahre als Ströbele-Nachfolger gehandelte Dirk Behrendt in der neuen rot-rot-grünen Landesregierung gerade Justizsenator geworden war und nicht mehr zur Verfügung stand.

Gegenkandidat zieht zurück

Ein anderer hat vorab öffentlich ebenfalls eine Kandidatur erwogen: Andreas Otto, Bayrams Fraktionskollege, Experte für Bau- und Mietpolitik. Das hatte überrascht: Otto gehört bei den Grünen zum Realo-Flügel, und der hat in dem links dominierten Wahlkreis nicht viel zu melden. Der Praxistest fiel aus: Er kandidiere nun doch nicht, sagt Otto der taz am Saaleingang vor Veranstaltungsbeginn, „aus privaten Gründen“, die er auch privat lässt. Das mag auch der Grund sein, warum von den über 1.000 Mitgliedern kaum hundert im Saal sind – die Spannung ist raus.

Das mit der neuen Ströbelin hat für Bayram durchaus ein paar spezielle Momente. Es gehe heute um eine Wahl, „die mir sehr schwerfällt“, sagt in der offiziellen Begrüßung eine Parteifunktionärin, am liebsten hätte sie Ströbele wieder gewählt. Es schien, dass da ein leichtes Zucken durch Bayram geht.

Hans-Christian Ströbele

„Wer hat denn letztlich recht gehabt?“

Es ist schließlich nicht so, dass die 51-Jährige nicht selbst auch etwas vorzuweisen hätte, auch über die mehr als zehnjährige Mitgliedschaft im Berliner Landesparlament hinaus. Bayram war in den vergangenen Jahren die, die in der Flüchtlingspolitik in Berlin meist vor Ort war: erst auf dem Oranienplatz, dann oft genug an der besetzten Gerhart-Hauptmann-Schule und anderswo. Und so wurde die Frau, die erst 2009 von der SPD zu den Grünen kam, auch in der Abgeordnetenhausfraktion immer gewichtiger.

Ein erster Abschied

Aber das ist nachrangig an einem Tag, an dem es zwar offiziell um die Nachfolge, aber eigentlich um ein erstes Abschiednehmen von Ströbele geht. Das spiegelt sich schon allein darin, dass Bayram sich bei ihrer Vorstellung als Kandidatin auf zehn Minuten beschränken muss, Ströbele aber zuvor eine fast 20-minütige Rede halten kann.

Ströbele auf der Wahl

Er hat viermal den Wahlkreis direkt geholt, jetzt tritt er nicht mehr an: Ströbele am Samstag bei der Nominierung Foto: dpa

Die man durchaus als politisches Vermächtnis werten kann. Und auch als Mahnung, wie die Grünen aus ihrem aktuellen Umfragetief herauskommen sollen – nur noch 7 Prozent gibt ihnen am Samstag die jüngste Umfrage bundesweit, gegen Ende 2016 waren es noch 13 Prozent. Und dieses Vermächtnis sieht so aus, wie Ströbele immer Politik gemacht hat: links und pazifistisch.

Der 77-Jährige erinnert daran, dass es aus seiner Sicht seine ablehnende Haltung zu Kriegseinsätzen der Bundeswehr war, die ihn Anfang 2002 bei einem Grünen-Parteitag um einen sicheren Listenplatz brachte und damit indirekt seine Erfolgsgeschichte auslöste. Es blieb nämlich so nur der Versuch, direkt den Wahlkreis zu gewinnen – was bei einer Bundestagswahl noch kein Grüner schaffte. Bei der vorangegangenen, 1998, gab es in Kreuzberg mehr SPD- als Grünen-Wähler, in Friedrichshain führten die Grünen ein absolutes Nischendasein mit nur 6,8 Prozent der Erststimmen.

Ströbeles Chancen mochte vor diesem Hintergrund mancher kaum Chancen nennen. Doch es funktionierte, auch dank breiter Unterstützung und begleitet von Comic-Plakaten des Künstlers Seyfried, an die Ströbele an diesem Vormittag 15 Jahre später erinnert. „Fischer quälen, Ströbele wählen“, zitiert er einen Spruch darauf.

Und kommt dann zu seiner Haltung contra Kriegseinsätze zurück: „Ich stelle mir nach so vielen Jahren die Frage: Wer hat denn letztlich recht gehabt?“ Vielerorts sei die Bundeswehr weiter im Einsatz, im Kosovo, damals erster Streitgrund, sieht er keine Verbesserung.

Canan Bayram, Juristin und Rechtsanwältin wie Ströbele, muss also auch noch Militär- und Verteidigungsexpertin werden, wenn sie im September in den Bundestag gewählt werden sollte. Dass das klappt, scheint klar – Ströbele holte zuletzt 2013 doppelt so viele Stimmen wie die zweitplatzierte SPD-Kandidatin. Wobei Ströbeles eigene Erfolge belegen, dass alte Ergebnisse auch trügen können. „Ich habe viel vor, da habe ich Ideen“, kündigt Bayram für den Bundestag und ihr Bemühen um eine offene Gesellschaft an.

Es gibt auch ohne Andreas Otto einen Gegenkandidaten, der aber nach einem ersten Meinungsbild zurückzieht. Am Ende stimmen von 60 Wahlberechtigten 57 für Bayram. Sie dankt und sagt, was Kandidaten nach ihrer Kür stets sagen: dass sie das nur schaffe, „wenn wir alle gemeinsam kämpfen“.

Das mit dem Kämpfen mag zwar rein sprachlich nicht zum Weltfrieden passen, für den sie sich auch noch einzusetzen verspricht. Dafür bleibt ihr ja auch noch Zeit: Noch ist Ströbele selbst Ströbele, seine letzte Sitzungswoche im Bundestag endet erst am 30. Juni.

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