Hamburger Streit um Pädagogik: Psycho-Druck gegen Klassenkasper

Das Fortbildungsmodul der „Neuen Autorität“ soll junge Lehrer*innen für den Schulalltag fit machen. Kritiker sehen einen Verstoß gegen die Kinderrechtskonvention.

Eine Lehrerin geht über einen Schulflur, an der Garderobe hängen Kinderjacken.

Wo geht's in die richtige Richtung? Junge Lehrerin im Schulalltag Foto: dpa

HAMBURG taz | Die junge Lehrerin fordert Schüler Paul auf, in der großen Pause zur Bank vor dem Schulleitungsbüro zu kommen. Dort sitzt er ein paar Minuten, bevor sie beginnt, auf ihn einzureden. „Du weißt, dass es nicht in Ordnung ist, andere Kinder beim Lernen zu stören.“ Es sei ihre Pflicht, die anderen Kinder zu schützen. Er werde sich so keine Freunde machen. Es sei seine „Verantwortung“, sein Verhalten zu ändern.

Vier- bis fünfmal wöchentlich bekommt Paul diese Predigt am Pausenanfang. So beschrieben in einem Text des Behördenmagazins Hamburg macht Schule.

Die Lehrerin hat sich an ihren Kurs für Berufseinsteiger erinnert: „Neue Autoritäten“ heißt das Fortbildungsmodul, das junge Lehrer in Hamburg fit für den Schulalltag machen soll. Und statt sauer zu werden und aus der Haut zu fahren, setzt sie auf dort geschulte Prinzipien wie die des „einseitigen Handelns“. Sie geht den Dingen nach, „wenn der Dampf aus der Situation raus ist“.

„Ich muss nicht gewinnen – nur beharren“, sagt sie. Das habe sie aus dem Konzept von Haim Omer, klinischer Psychologe der Uni Tel Aviv, gelernt. Eltern und Lehrer hätten immer wieder mit „ungewöhnlich destruktivem und gewalttätigen“ Verhalten von Kindern zu tun, so der Behördentext. Das Prinzip der „Neuen Autorität“ biete einen Rahmen, mit dem Erziehende ihre „Handlungsfähigkeit“ wieder herstellen, Beziehungen stabilisieren und „Grenzen“ ziehen könnten.

Sabine Boeddinghaus, Linke

„Ich finde es schlimm, dass junge Lehrer in der Berufseingangsphase hier in die falsche Richtung gepolt werden“

Was Paul eigentlich dazu bewegt hat, im Unterricht zu stören, erfährt der Leser nicht. Das Konzept ist eigentlich für überforderte Eltern entwickelt worden, seine Übertragung auf den Schulalltag ist hoch umstritten. Die Erwachsenen, die sich so aus der „Ohnmachtsfalle“ lösen wollen, bedienen sich Methoden des gewaltfreien Widerstands von Mahatma Gandhi und Martin Luther King. Etwa ein „Sit-in“ im Kinderzimmer, die „Befehlsverweigerung“, die „Elternpa­trouille“ oder das Öffentlichmachen der Vergehen eines Kindes.

Es könne passieren, dass ein Mädchen, das seine Mutter beschimpft und schlägt, binnen weniger Minuten Dutzende SMS aus einem „Netzwerk“ von Unterstützern erhält, die seine Mutter aus dem Bekanntenkreis rekrutiert hat, schreibt der Erziehungswissenschaftler Stefan Dierbach in der Zeitung Forum für Kinder und Jugendarbeit. Er sieht darin eine „kalkulierte Beschämung des Kindes“.

Auch Lehrer werden dazu animiert, „Grenzverletzungen öffentlich“ zu machen und sich ein „Netzwerk“, ein „Bündnis gegen schädigendes Verhalten“ aufzubauen. Bei Haim Omer heißt es „Dokumentierung der Gewalt“, das sei eine wichtige Art „aufzuhören, ein passives Opfer zu sein“.

Machtverhältnisse auf dem Kopf

Indes kritisiert Dierbach, dass hier die Machtverhältnisse auf dem Kopf stehen, da sich gewaltloser Widerstand à la Ghandi gegen die Mächtigen richtete. Das Kind solle aus Angst vor der Form der öffentlichen Sanktionierung sein Verhalten ändern. Die Frage nach Ursachen für den Ausraster des Mädchens werde nicht gestellt.

„Haim Omer macht das Kind dafür verantwortlich, dass die Erwachsenen sich besser fühlen. Das ist eine Form der Parentifizierung“, kritisiert auch Cornelia Klioba, begabungspsychologische Beraterin in Hamburg. Er lasse den Kindern keinen Raum, um Ängste und Gefühle auszudrücken.

Omer, der früher Soldaten in Deeskalation trainiert habe, setze darauf, Distanz aufzubauen, egal wie das Kind sich fühle. Für Lehrkräfte, die unter hohem Druck stünden, wäre das Programm eine „Verheißung“. Doch es gebe viel geeignetere Konzepte wie etwa das „Zürcher Ressourcen-Modell“, die Lehrern helfen, ihre Stärken und Schwächen zu analysieren und ihre Rolle zu finden. Diese bauten nicht auf Patentrezepte, sondern gingen auf die einzelne Person ein.

Die Schulbehörde steht hinter dem Programm

„Ich finde es schlimm, dass junge Lehrer in der Berufseingangsphase hier in die falsche Richtung gepolt werden“, sagt Sabine Boeddinghaus, Schulpolitikerin der Hamburger Linksfraktion. Sie nennt das Programm einen „Psycho-Rohrstock“. Die Handlungsfähigkeit der Erwachsenen zur Unterordnung des Kindes werden mit „repressiven Maßnahmen“ durchgesetzt, einzig begrenzt vom „Verbot körperlicher Gewalt und verbaler Herabsetzungen“. Dies sei bedauerlich, zumal die klassische Schulsozialarbeit aufgrund eines neuen Dienstzeitmodells kaum noch eigenständig arbeiten könne.

Boeddinghaus stellte nun eine Anfrage an den Senat, wollte wissen, wie dieser zur Kritik stehe, verstoße das Konzept doch gegen die UN-Kinderrechtskonvention. Die Schulbehörde ist von dem Konzept offenbar angetan. Seit 2014 nun habe das Landesinstitut für Lehrerbildung das Angebot in sein Programm aufgenommen, „aufgrund der großen Nachfrage“.

Unbeeindruckte Jugendliche

Die Lehrkräfte hätten nun mal dafür zu sorgen, dass Klassen „Umgangsformen, Regeln und Rituale“ reflektiert und einhalten werden. Das Konzept der „Neuen Autorität“ helfe Berufseinsteigern, die nötigen „Routinen“ aufzubauen, und ermögliche allen an der Schule einen „wertebasierten“ Dialog. Die pädagogische Arbeit werde durch die „Neue Autorität“ gestärkt und nicht gefährdet, schreibt der Senat. „Auch entspricht das Konzept der UN-Kinderrechtskonvention.“ Und eine „Beschämung“ von Kindern sei „kein ausdrückliches Mittel“ und werde „in jedweder Form abgelehnt“.

„Ich finde die Antworten wenig zufriedenstellend“, sagt Boeddinghaus. Der Senat habe sich nicht wirklich der Kritik gestellt. Drum überlege sie, eine Fachveranstaltung zu organisieren. Eine kontroverse Debatte gab es bereits in besagtem Forum für Kinder und Jugendarbeit.

Zumindest ältere Jugendliche wissen sich wohl auch zu wehren. Dierbach moniert, dass die auch der „konfrontativen Pädagogik“ nahestehenden Methoden beschwörenden Charakter hätten. Die empfohlenen Formulierungen seien von einer „seltsam pathetischen Künstlichkeit“ und werden mantraähnlich wiederholt. So habe ein Vertreter der Methode von einem Jugendzen­trumsmitarbeiter berichtet, der Jugendliche vom Kiffen abhalten wollte und seinen Satz dazu minutenlang wiederholte. Einer der Jugendlichen habe das wie folgt kommentiert: „Ey, kommt, lass uns gehen, der fickt mein Ohr.“

Der Beitrag wurde um den Hinweis auf die Fachdebatte in der Zeitschrift Forum aktualisiert.

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