Hommage an Dirigent Jeffrey Tate: Pazifist am Dirigentenpult

Für den jüngst verstorbenen Chefdirigenten der Hamburger Symphoniker war Musik auch ein Aufruf zur Zivilcourage. Jetzt ist ihm ein Abschiedskonzert gewidmet.

Der Chefdirigent der Hamburger Symphoniker, Sir Jeffrey Tate, sitzt am 28.04.2017 in Hamburg während einer Pressekonferenz der Symphoniker zur Spielzeit 2017/18 in der Laeiszhalle. Foto: dpa

HAMBURG taz | Eigentlich sollte es ein luftiges Sommerkonzert werden. Ein rein französisches, mit Werken der Zeitgenossen Henri Dutilleux und Marc-André Dalbavie sowie mit Claude Debussys symphonischen Skizzen namens „La Mer“ (Das Meer). Eine federleichte Einstimmung auf die Sommermonate hätte das kommende Konzert der Hamburger Symphoniker werden können, das letzte vor den großen Ferien. Doch aus dem impressionistischen Flirren ist ein Abschied geworden. Jeffrey Tate, international gefragter Chefdirigent der Symphoniker seit 2009, kann das zehnte Symphoniekonzert nicht mehr selbst dirigieren: Der so freundliche wie bescheidene Brite ist, 74-jährig, am 2. Juni in Turin am Herzinfarkt gestorben.

Nun wird der Erste Gastdirigent Ion Marin den Abend leiten – ein symbolbeladenes Konzert, dessen Pathos eher zu Tates Jugend als zu seinen reiferen Tagen zu passen scheint. Schuberts Unvollendete wird das 2013 vom Hamburger Senat entschuldete Orchester spielen, neben NDR-Elbphilharmonikern und Philharmonischem Staatsorchester dritter Klangkörper am Platze. Zudem erklingt Mahlers letzte vollendete Sinfonie – die Neunte – sowie zwei Arien aus Bachs h-Moll-Messe.

Vor allem die Wahl der Sinfonien hat Symbolwert, schuf doch, wie Arnold Schönberg einmal anmerkte, fast kein Komponist mehr als neun Sinfonien. Jeffrey Tate hat es 2017 auf neun von zehn Symphoniekonzerten gebracht; eine von den Programmmachern wohl gewollte Parallele.

Aber das ist Kabbalistik, und Tate hätte solche Zahlenmagie kaum goutiert. Nicht mal einen Schöpferglauben; dass er weder an Gott noch ans Jenseits glaube, hat er schon vor Jahren erklärt: „Ich glaube, dass wir schlicht verschwinden und uns mit dem Nichts vereinen.“ Das hat er 2009 gesagt, 18 Monate, nachdem er dem Tod knapp von der Schippe gesprungen war. Als Tate damals aus dem Koma erwachte, verstand er, „dass der Tod – in diesem Fall – viel bequemer war, als ich dachte. Ich hatte gar nichts davon bemerkt.“

Arzt geworden aus Dankbarkeit

Mit Krankheit und Tod hat sich Tate, der „alles zwischen Haydn und Adès“ liebte und ein angeborenes Wirbelsäulenleiden hatte, stets befasst. Aus Dankbarkeit dafür, dass ihn Ärzte vorm Rollstuhl bewahrten, ist er sogar zunächst Augenarzt geworden: „Ich empfand eine Art Bringschuld.“ Und obwohl er zwei Jahre später umschwenkte und als Korrepetitor an einer Oper begann, hat er seine kurze Arztkarriere nie bereut. Sie habe ihm die gesellschaftliche Bedeutung von Musik bewusst gemacht: „Der soziale Status der Ärzte ist unangetastet, sie tun etwas sehr Wichtiges. Da könnte man leicht denken, dass Musik nur Dekoration sei.“ Dabei mache Musik „die Seele schön“.

Was fehlte in Tates Leben, war das Politische. „Ich halte es für ein großes Versäumnis, dass ich mich politisch nicht engagiert habe“, fand er. Das Potenzial habe er gehabt: 1962, bei der Uraufführung von Benjamin Brittens „War Requiem“ in der 1940 von Deutschen zerstörten, neu aufgebauten Kathe­drale von Coventry, sei er – den Vietnam-Krieg im Blick – radikaler Pazifist gewesen. Und sehr beeindruckt von Brittens Werk, das die Begegnung verfeindeter Soldaten im Jenseits inszenierte und mitten im Kalten Krieg auf deutsch-englische Versöhnung setzte.

Wie um das fortzuführen, hat Jeffrey Tate das Requiem gleich zu Amtsantritt – 70 Jahre nach Ausbruch des Zweiten Weltkriegs – in Hamburg spielen lassen. Als in Deutschland lebender Brite sandte er damit auch eine persönliche Botschaft. Diese Musik war für ihn eine Aufforderung zur Zivilcourage, ähnlich wie 2016 das Open-Air-Konzert in einer Hamburger Flüchtlingsunterkunft. Nie ging es ihm dabei um die Bevormundung von Musikern oder Publikum. Sondern um den Impuls, auf den nach Konzertende zunächst die Stille folgt.

Wohlige Wortlosigkeit

Ohnehin schätzte er Werke, die „im Nichts enden, einfach verschwinden“. Dieser wort- und klanglose Moment, in dem die Zeit stehen bleibt, war für Tate nicht nur Allegorie des Todes, sondern auch „ein konzentrierter Moment, den ich sehr beglückend finde“. Ein Genuss aus Ratio und Gefühl, schwer bis unmöglich in Worte zu fassen.

Diese Wortlosigkeit atmet auch Mahlers Neunte, die jetzt für ihn erklingt. Wie Schuberts „Unvollendete“ und Bachs h-Moll-Messe beschwört Mahlers Sinfonie Abschied und Tod. Bizarre Koinzidenz: Thomas Hengelbrock, Chef des NDR-Elbphilharmonieorchestes hat kürzlich gesagt, man höre in Mahlers Neunter „quasi zwei Herzinfarkte im ersten Satz“.

Auch dass die Symphoniker ausgerechnet den Schlusssatz spielen, der das englische Kirchenlied „Abide with me“ (Bleib bei mir, Herr) präsentieren, ist kein Zufall; ebenso wenig, dass das Werk, ganz in Tates Sinn, nicht mit einem Gotteslob endet, sondern leise verklingt. Kurz vor seinem Tod hatte er das Stück übrigens beim Orchestra Sinfonica Nazionale della RAI in Turin dirigiert, sein musikalisches Testament geschrieben.

Tates Mann, der Geomorphologe Klaus Kuhlemann, und die Symphoniker begehen die Trauer über Tates Tod, den Prinz William noch im April zum Ritter schlug, auf je eigene Weise. Der Nachruf der Symphoniker-Homepage etwa endet mit dem Satz: „Möge seine Seele eingebunden sein in das Bündel des ewigen Lebens.“ Es ist eine traditionelle jüdische Grabinschrift. Ein letzter Gruß des in Israel geborenen Symphoniker-Intendanten Daniel Kühnel an seinen „Maestro“.

Konzert: So, 18.6., 19 Uhr, Laeiszhalle, Hamburg

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