In der GitterstaBi: Hier schlummert etwas

Tobias Knauert* ist Bibliothekar in Deutschlands einziger regulärer Zweigstelle einer Stadtbibliothek im Knast und damit eine Rarität.

Geduld gefragt: Einmal in der Woche darf der Gefangene der JVA Bremen in die Bibliothek. Foto: Kay Michalak/Fotoetage

BREMEN taz | „Ich bin hier der Zwangsarbeiter“, sagt der Mann, streckt seine kräftige Hand zur Begrüßung aus und fügt hinzu: „und Opfer eines Justizirrtums!“ Es ist jedoch eine dritte Eigenschaft, die einen Besuch bei Tobias Knauert* in der Justizvollzugsanstalt (JVA) Bremen interessant macht: Er ist Gefängnis-Bibliothekar. Und damit eine Rarität.

Der Weg zu Knauert führt durch viele Türen, wird von wiederholtem Schlossgequietsche begleitet und endet in schlichten Räumen voller Regale: in Deutschlands einziger regulärer Zweigstelle einer Stadtbibliothek (StaBi), die sich hinter Gefängnismauern befindet – was einen veritablen bildungspolitischen Skandal darstellt. Wo, wenn nicht im Gefängnis, gibt es so viele Menschen mit so viel zwangsberuhigter Zeit? Es ist kein Zufall: Die Zweigstelle „Knast“ hat unter den Filialen der Bremer StaBi den mit Abstand höchsten Nutzungsgrad.

Im Moment allerdings herrscht Ruhe in Knauerts Bibliothek. Es ist die Ruhe zwischen zwei Besucheranstürmen: Knauerts Mitgefangene dürfen die Räume nur in kleinen Gruppen betreten. Hereingeführt von VollzugsbeamtInnen, die hinter sich sorgfältig zuschließen. Dann aber stehen die Gefangenen in einer veritablen Freihand-Bibliothek – auch das ein Unikum in Deutschland. „Freihand“ im Knast ist wie ein Grasbüschel im Asphalt: ein Mini-Biotop als Utopie dessen, was ohne Asphalt vorhanden wäre. Beziehungsweise ohne Gefängnismauern: Teilhabe.

Knauert bekommt einen Stapel DVDs auf den Tisch geknallt: „Hier, alle Pornos rechtzeitig zurück“, sagt ein junger Mann mit vierkantiger Statur, breit grinsend. Was er sich wirklich angeschaut hat, will er nicht zeigen. Aber Wunschdenken ist ja auch ein Teil des individuellen Freiraums, den die Gefängnis-Bibliothek ermöglicht.

In Deutschlands 185 Haftanstalten arbeiten lediglich fünf hauptamtliche BibliothekarInnen: Neben Bremen in Hamburg, Köln und Münster.

Dabei fordert Artikel 28 der Europäischen Strafvollzugsgrundsätze explizit die Einrichtung regulärer Gefangenen-Büchereien – und deren institutionelle Zusammenarbeit mit den öffentlichen Bibliotheken vor Ort.

In vielen Gefängnissen gibt es dennoch allenfalls Bücher-Wägelchen, die gelegentlich durch die Zellentrakte hoppeln.

In Bremen entleihen 1.200 Insassen pro Jahr 25.000 Medien. JVA-Chef Carsten Bauer betont: „Die Einschränkung der Freiheit, zu der Gefangene verurteilt sind, bezieht sich nicht auf ihre geistige Freiheit.“

Überall wuselt Kundschaft

Überall wuselt nun die Kundschaft durch deren Gänge, eine knappe halbe Stunde haben die Gefangenen Zeit, sich mit medialem Stoff zu versorgen. Was steht ganz oben auf der Bedarfsliste? „Sachen über Ernährung und Fitness, Fitness ohne Geräte“, sagt Olaf Reimer nüchtern. Reimer, Mitte 60, ist sozusagen Knauerts Vorgesetzer: Seit vielen Jahren schon ehrenamtlich im Anstaltsbeirat engagiert und nun einer von sechs BibliothekarInnen: Zwei auf 400-Euro-Basis wie Reimer, drei „Zwangsarbeiter“, eine Hauptberufliche.

„Also ich, ich interessiere mich eher für Fachliteratur“, sagt ein älterer kahlköpfiger Mann, der das kleine Gespräch mit Reimer mitgehört hat. Er zeigt auf das Regal neben dem hohen Fenster, über dem „Jura“ steht: „Da ist das, was wir hier wirklich brauchen!“ Im Genaueren: „Nicht BGB, sondern das Strafgesetzbuch und so was“, fügt er vielsagend hinzu. Dann sagt er leider nichts mehr.

Rechtsliteratur habe im Knast tatsächlich weit überproportionale Ausleihquoten, bestätigt Andreas Gebauer, der wiederum der Vorgesetzte von Reimer ist: Ein richtiger Bibliotheksleiter, für den ganzen Bremer Westen zuständig, der aber seinen ersten festen Job im Knast hatte. Noch immer sieht er dort regelmäßig nach dem Rechten. Gerade mustert er kritisch den Tisch mit den Tageszeitungen: Der ist nur spärlich belegt, die Bibliothek ist auf gespendete Abos angewiesen. „Das ist eine gewisse Angebotslücke“, sagt Gebauer stirnrunzelnd.

Immer eine Woche warten

„Ham alle was?“, ertönt da eine energische Stimme. Ausgestöbert hat sich’s, es ist Zeit zum Umschluss. Und wieder eine Woche Wartezeit bis zum nächsten „Büchertausch“ – so nennt man im Knast den gemeinsamen Gang zur Bibliothek. „Das klappt aber auch nicht immer“, flüstert noch schnell einer aus der Gruppe: „Wir müssen halt einen Beamten finden, der bereit ist, uns da auch hinzuführen.“

Pause. Knauert wischt sich einen Schweißtropfen von der Stirn. Eigentlich würde er jetzt gern noch mal auf seinen persönlichen Fall zu sprechen kommen, den Justizirrtum und all das, aber da poltert schon die nächste Gruppe herein.

Es ist fast rührend zu sehen, wie eifrig sich die Männer auf das Lesematerial stürzen, wie tätowierte Arme in Regale greifen und mit welch dringlicher Eile DVD-Stapel durchgeguckt werden. Manche Schulklasse würde gelangweilt die Augen verdrehen, wenn der Klassenausflug in die nächste Bib-Zweigstelle ginge – zumal, wenn sie aussähe wie die Zweigstelle Knast: Resopalregale auf PVC-Böden, ein paar Yuccas und das Sofa im CD-Raum, das ist alles nicht schick. Aber es ist eine Welt, die Weltzugänge bietet – deren Wert wohl nirgendwo so deutlich wird wie in der spezifischen Situation Knast.

„Wir wollen den Gefangenen ein Stück Normalität bieten“, sagt Gebauer, der gerade die verrutschte Bestsellerliste aus dem Spiegel wieder festklebt. „Allerdings“, fällt ihm dann ein, „waren die meisten unserer Leute draußen noch nie in einer Bibliothek.“ Bibliothek sei ja auch ein Begriff, „der vom Bildungsbürgertum blockiert ist“, wirft jetzt Michael Kümmel ein, der als Verantwortlicher für die JVA-Öffentlichkeitsarbeit ebenfalls zugegen ist. Verstohlen feixend beobachten zwei Insassen das debattierende Besuchergrüppchen. Dass sie nach ihrer Entlassung einen kostenlosen StaBi-Ausweis bekommen, werden sie erst dann erfahren. „Ich sehe tatsächlich relativ viele später in meiner ,normalen‚ Bibliothek wieder“, sagt Gebauer.

Wieder ist Schichtwechsel. Bevor Knauert erneut seinen Justizirrtum aufrollen kann, schnell die Frage nach Brasilien: Pro Buch, das dort ein Gefangener liest und in einer kleinen Abhandlung verarbeitet, werden ihm vier Tage Haft erlassen. Zwar kann man sich seine Haftstrafe nicht komplett weglesen, der Haftrabatt ist auf zwölf Bücher pro Jahr beschränkt. Wäre das nicht trotzdem ein veritabler Leseanreiz, auch in Deutschland? „Nö, das ist Quatsch“, kommentiert Knauert trocken. In der Zeitschrift für neue Kriminalpolitik hingegen wird er derzeit ernsthaft diskutiert.

Welche Bedeutung das Lesen im Gefängnis haben kann, wurde schon im 19. Jahrhundert wahrgenommen. Die Anstaltsleitung befahl Lektüre zur „geistigen und seelischen Hebung“, wie es etwa in der Hausordnung für die Zuchthäusler der königlichen Strafanstalt zu Münster hieß. Kriminalromane und „moderne Autoren“ wie Goethe und Schiller waren dort bis 1901 verboten.

In der Bremer JVA sei im Prinzip nichts verboten, versichert Kümmel, der es sich auf dem CD-Hör-Sofa gemütlich gemacht hat: „Wir haben keine Zensur.“ Lediglich bei „Höllenritt“, dem Buch des früheren Hells Angel Ulrich Detrois, habe man diskutiert, ob es als „kriminelle Heldengeschichte falsche Vorbilder“ liefere. Nun steht das Buch dennoch im Regal.

Für 5.000 Euro darf die Zweigstelle jedes Jahr Medien anschaffen, bezahlt vom Justizressort – das ist locker das Fünffache dessen, was Gefängnisbibliotheken sonst zur Verfügung steht. Der StaBi-interne Leihverkehr zeigt die Attraktivität der Bestände: Die nicht-inhaftierten StaBi-NutzerInnen beanspruchten derart intensiv die 8.000 Medien der Knast-Zweigstelle, dass der Leihverkehr in diese Richtung gestoppt werden musste.

„Zu wenig Action...“

Besonders beliebt sind DVDs. „Doch, ich habe hier auch schon mal ein Buch ausgeliehen“, sagt ein stoppelbärtiger Mann, der etwas missmutig mit dem Finger über die DVD-Hüllen fährt: „zu wenig Action, zu wenig Action, zu wenig Action ...“. Das Buch? „Eines über Gesundheit. Das war aber mehr was für Frauen.“

Knauert rollt mit den Augen. „Ich weise die Kollegen immer auf Neuerscheinungen hin“, sagt er nachdrücklich, manchmal habe er damit auch Erfolg. Inhaltlich kennt Knauert sich aus: Vor seiner Verhaftung hatte er diverse Aushilfsjobs in Verlagen und im Buchhandel.

Knauert sitzt im Knast, weil die Richter ihn für schuldig befanden, seine Mutter getötet zu haben. In der Bibliothek sitzt er, weil er dringend etwas benötigt, das anders ist als Knast: 100 Quadratmeter voller Freihand-Regale, die die räumliche Enge der Anstalt geistig weiten.

Zurück auf der Straße: Von hier aus wirkt die JVA wie eine romantische Backsteinburg. Giebel, Türmchen, neogotische Spitzbogenfenster, man muss sich halt den Stacheldraht wegdenken. In gewisser Weise passt aber sogar der zum Bild des Dornröschenschlosses: Hier schlummert etwas, hier hat, von außen wenig wahrnehmbar, eine Errungenschaft der in den 70er-Jahren entwickelten „sozialen Bibliotheksarbeit“ mit ihrem „aufsuchenden Ansatz“ überlebt – die andernorts längst völlig entschlafen ist: Ein Vorbild, das wachgeküsst werden könnte.

*Name geändert

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.