Internationales Filmfestival Istanbul: Bergungsarbeiten im Hinterland

Spurensuche beim Filmfestival von Istanbul: Wo die Modernisierung gefräßig und allgegenwärtig ist, helfen Filme, Erinnerungen zu bewahren.

Vernarrt in papierne Falten und knochige Finger: Still aus Özay Ahins Dokumentarfilm „Storm Emine“, der eine alte Bäuerin porträtiert. Bild: 33. Istanbul Filmfestival

ISTANBUL taz | In dieser wüsten Landschaft erinnert nichts mehr an den Garten, der hier einst war. Zwei Frauen, eine davon Devrim Akkaya, die Regisseurin dieses Dokumentarfilms, sitzen davor und erinnern sich – genauer: führen eine Diskurs darüber, wie Erinnerungen sich an Dinge knüpfen, diese aufladen und wie diese Dinge ins eigene Leben zurückstrahlen. So wie ein Garten, den es nicht mehr gibt, aber den man immer noch im Herzen trägt, gerade auch, wenn man sieht, was davon (nicht) mehr übrig ist.

In „Diyar“, ein Film, der auf dem 33. Internationalen Filmfestival in Istanbul zu sehen war, geht es darum, wie sich Geschichte, Erinnerungen und Traumata in materieller Konkretion zu einem Abschluss bringen lassen. Den Impuls dafür bildet die Geschichte von Akkayas armenischem Urgroßvater, von dem die Filmemacherin nur weiß, dass er bei seinen Mitmenschen geschätzt war, bei kämpferischen Handlungen als „Ausländer“ angesehen und schließlich in einem bislang nicht lokalisiertem Massengrab anonym verscharrt wurde.

Mit ihrem Vater Yusuf, der noch einige Erinnerungen an seinen Großvater hat, begibt sie sich auf die Suche nicht nur nach dem Grab, sondern auch nach einer verschütteten Welt: Längst hat das Dorf ihres Urgroßvaters eine völlig andere Gestalt angenommen. Wenn Yusuf sich zu orientieren versucht, geschieht dies anhand von alten Fotos auf einem I-Pad: Kein Haus gleicht mehr jenen, die hier einst standen. Den Ort des Massengrabs identifizieren sie schließlich an einer Stelle, an der sich achtlos abgelegte Trümmer von einem Abriss häufen.

Abriss eines Kinos

Das in „Diyar“ durchreiste Hinterland ähnelt zwar in keiner Hinsicht der intensiven Betriebsamkeit in der Metropole Istanbul. Dennoch korrespondiert dieser Film besonders gut mit der Stadt: Vor einem Jahr im April bildeten die vom Festival ausgehenden, gewaltsam niedergeschlagenen Proteste gegen den Abriss des aus historischen und nostalgischen Gründen für die Istanbuler Bevölkerung wichtigen Kinos Emek gewissermaßen das Vorspiel zu den kurz darauf folgenden, kämpferischen Auseinandersetzungen um den nahegelegenen Gezipark am Taksimplatz.

Und dort, wo sie touristisch oder ökonomisch nicht ergiebig ist, entledigt sich Istanbul seiner materiell geronnenen Geschichte leichtfertig: Die von Abrissbirnen in die Stadt geschlagenen Lücken sind zahlreich, rund um den Taksim bilden sich neue Einkaufsmöglichkeiten, die seit dem 19. Jahrhundert gewachsene migrantische Community in Tarlabasi ist zu weiten Teilen geräumt, ihre Häuser sind demoliert. Große Werbeflächen kündigen seit geraumer Zeit für diesen Ort ein geschichtsvergessenes Shopping- und Business-Paradies im charakterlosen Metropolen-Look an.

Am Taksimplatz und im Gezipark erinnert nichts an die Bilder, die vor nicht einmal einem Jahr von hier aus um die Welt gegangen sind: Etwa an der Stelle, von der aus ich über eine Dauer-Liveschaltung im Netz die Riots beobachtet habe, liege ich nun neben vielen anderen im Sonnenschein auf dem Gras und beobachte mit distanzierter Gelassenheit das Summen und Brummen einer dem Anschein nach ganz gewöhnlichen Stadt.

Maschinengewehr im Anschlag

Unweit knutscht ein Pärchen in einer Bäumchengruppe. Passend, dass der obligatorische Dokumentarfilm über den Gezi-Protest im Festivalprogramm „Love will Change the World“ heißt – die Verschnaufpause im Park sei diesen zwei Liebenden gegönnt. In einer Seitenstraße in Laufnähe stehen Polizisten, das Maschinengewehr im Anschlag.

Erinnerung und Material sind nicht zuletzt auch eine Sache des Kinos: Özay Ahins „Storm Emine“ etwa setzt einer in Irrsinn und Durchhaltevermögen beeindruckenden, hochbetagten Bäuerin, die als letzte Bewohnerin eines Bergdorfs verblieben ist, ein HD-Cam-Denkmal – und dabei insbesondere ihrer keifend-schrillen Stimme, wenn sie ins Telefon plärrt, ihren papieren-fragilen Falten im Gesicht und ihren knorrig-hexenhaften Fingern, die dieser Film mit sehr viel Liebe beobachtet.

Für den hinreißend brüchigen „Little Feet“ verwendete US-Indieregisseur Alexandre Rockwell letzte 16-mm-Filmreste, um seine beiden Kinder Lana und Nico bei einer Reise durch ein aus Kinderaugen magisches Los Angeles zu beobachten: So flüchtig wie das verwendete, obsolet gewordene Filmmaterial ist auch die Kindheit eine Sache, die schließlich an ein Ende kommt und nur mehr Erinnerung sein wird.

Als beglückendes Antidot gegen den Tunnelblick, den man beim Manövrieren durch Istanbuls Menschenmassen einnimmt, wirkt schließlich Tsai Ming-Liangs „Journey to the West“, in dem sich ein buddhistischer Mönch in spiritueller Trance durch Marseille tastet: Eine Lektion in Langsamkeit, eine Schule des freien Sehens. An den roten Lichtkegel, den der Mönch in einer Tunneltreppe wegen der Sonneneinstrahlung hinter sich wirft, werde ich mich fortan erinnern.

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