Interview mit Otmar Heirich: „Anhören heißt nicht erhören“

Nach dem Bürgerentscheid: Der Nürtinger OB im Gespräch über direkte Demokratie in der Stadt.

„Einen schönen Sonntag im Wahllokal zu verbringen, ist vielleicht nicht mehr zeitgemäß“ Bild: dpa

taz: Herr Heirich, wie bewerten Sie den jüngsten Bürger­entscheid in Nürtingen?

Otmar Heirich: Das Ergebnis geht in Ordnung. Das Quorum wurde knapp verfehlt, also befasst sich der Gemeinderat noch mal mit dem Thema. Wir haben wichtige Hinweise bekommen, was noch berücksichtigt werden muss. Aber enttäuschend war die Wahlbeteiligung: Wenn man schon Plebiszite auf Kommunalebene einführt, wäre es dann auch schön, wenn sich mehr Leute daran beteiligen.

• Im Juni gab es im baden-württembergischen Nürtingen einen Bürgerentscheid. Es wurde über den Bau von Anschlussunterkünften in Friedhosfnähe entschieden. Die Bürger sollten sich für „ganz“ oder „gar nicht“ entscheiden, obwohl inzwischen schon Kompromissbereitschaft bei Befürwortern wie Gegnern signalisiert wurde.

• Trotz aufwendiger Vorbereitungen war die Beteiligung der Bürger*innen gering. Da das notwendige Quorum somit nicht erreicht wurde, ist der Bürgerentscheid nicht zustande gekommen und der Gemeinderat muss sich nun erneut mit der Schaffung von Wohnraum an den geplanten Standorten beschäftigen und neu entscheiden.

Nehmen Sie die BürgerInnen in die Pflicht?

Wir haben uns im Vorfeld sehr intensiv mit der Information der Bevölkerung beschäftigt. Mehr kann man an Öffentlichkeit kaum bieten. Wir stellen aber fest, dass die Leute sich nur für Dinge interessieren, die sie unmittelbar betreffen. Sobald Themen sich etwas von den persönlichen Befindlichkeiten entfernen, lässt das Interesse dramatisch nach.

Sind Bürgerentscheide also das falsche Mittel?

Ich finde Befragungen sinnvoller. Es gibt genügend Instrumente; sei es online, sei es direkt. Ich glaube, so sind die Leute eher bereit mitzumachen und das Bild ist repräsentativer. Einen schönen Sonntag im Wahllokal zu verbringen ist vielleicht nicht mehr zeitgemäß.

Seit 2003 ist er Oberbürgermeister im schwäbischen Nürtingen. Er fehlte am runden taz.meinland-Tisch.

Sie wurden in der Vergangenheit mehrfach kritisiert, weil sich Bürger übergangen fühlten.

Das kann ich überhaupt nicht teilen. Wir haben in nahezu allen Projekten die Bevölkerung sehr früh miteinbezogen. Aber Sie können nicht mit leeren Händen in Bürgeranhörungen gehen. Sie müssen schon mal klar sagen, was Sie möchten und planen.

Gegen Ihre Pläne wehrt sich Nürtingen oft lautstark. Nerven die Nürtinger?

Es macht natürlich mehr Arbeit, aber das haben wir uns bewusst ausgesucht. Wir sind es gewohnt, dass sich die Bürger hier zu allem und jedem äußern. Ob das nervt, kommt aber auf die Art und Weise an. Bei Facebook gibt es zum Teil wirklich üble Pöbeleien. Die ärgern einen schon.

Haben sich Ihre Ideen von Bürgerbeteiligung durch die Kritik geändert?

Ich war schon immer dafür, die Allgemeinheit frühzeitig in Prozesse einzubinden. Ich habe aber auch immer gesagt: Am Ende entscheidet der Gemeinderat. Wie Winfried Kretschmann sagt: Anhören heißt nicht Erhören. In der Politik kriegt am Ende niemand zu einhundert Prozent recht. Ich muss aushalten, dass ich dann auch kritisiert werde.

Jetzt haben Sie Forsa-Umfrageergebnisse an den Gemeinderat verteilt, die in der Tendenz gegen Volksentscheide sprechen. Warum?

Um mal eine kritische Diskussion anzuregen, was die richtigen Wege sind. Es kommt darauf an, dass Verwaltung und Gemeinderäte wieder engen Kontakt zur Bevölkerung aufbauen. Volksvertreter müssen volkstümlicher werden – aber nicht im Sinne von Stammtisch. Zudem geht aus den Statistiken hervor: Man erwartet, dass im Gemeinderat sachlich diskutiert wird, statt dass Gezänk den Alltag bestimmt. Daran wollte ich erinnern.

Das Interview führte THILO ADAM, Redakteur von taz.meinland.