Italienische Arte-Serie „Ein Wunder“: Wenn die Mutter Gottes Blut weint

Die Mysterie-Serie „Ein Wunder“ verwebt italienische Komödie und Politthriller. Dabei übt sie eine radikale Gesellschaftskritik.

Eine Frau steht hinter einem Mädchen und hält ihre Hände auf der Schulter des Mädchens

Geraten auch unter Druck: Präsidentengattin Sole (Elena Lietti) und ihre Tochter Foto: Montesi Antonello/Arte

Es gehört zur Tradition der Schauergeschichte, das Publikum auf falsche Fährten zu setzen. „Kunstvoll und arglistig“ weichen ihre Macher einer entscheidenden Aufklärung bis zum Ende aus, schrieb Sigmund Freud dazu in seiner Studie „Das Unheimliche“, um im Weiteren das Lebenselixier aller „mit dem Wunderbaren liebäugelnder Produktionen“ überhaupt offenzulegen – nämlich „neue Möglichkeiten des unheimlichen Gefühls“ zu erschaffen.

Die überbordende Mystery-Kulturindustrie, zu der insbesondere die Streamingdienste beitragen, hat dabei mit Freud gesprochen zwei Möglichkeiten: Nämlich das Unheimliche aus dem vermeintlich kulturell Überwundenen der Frühzeit menschlicher Gesellschaften entstehen zu lassen oder aus persönlichen Affekten, die „durch die Verdrängung in Angst verwandelt“ werden.

So eindeutig allerdings lassen sich die beiden Mechanismen im Achtteiler „Ein Wunder – Das Unheimliche im Heiligen“, nicht voneinander absetzen. Die Serie, die Arte derzeit ausstrahlt und die bis Ende Februar auf der Webseite des Senders abrufbar ist, spielt in einer italienischen nahen Zukunft. Eine Razzia bei einem Mafia-Boss fördert eine Statue der Madonna zutage, die so unaufhörlich wie unerklärlich Blut weint – echtes, menschliches Blut.

Alle acht Folgen der Serie sind auf arte.tv abrufbar.

Carabinieri-General Votta sichert das billige Plastikding in einem unter Beschlagnahme stehenden Schwimmbad in Rom und verständigt den amtierenden ­Ministerpräsidenten Pietromarchi. Italien steht kurz vor einem Referendum über den Verbleib in der Europäischen Union, an dessen – positivem – Ausgang nicht zuletzt die politische Karriere Pietromarchis hängt.

Kindisches Gemeinwesen

Seinen Amtspflichten gemäß inspiziert der Premier das unaufhörlich Körperflüssigkeit absondernde Artefakt im unheimlich leeren Bassin. Die Erscheinung verwirrt und lähmt ihn auf seltsame Weise: Seltsam, weil ihm als EU-Befürworter eine offensichtlich trauernde Madonna bei einem Volksentscheid im katholischen Italien doch in die Hände spielen müsste!

Zu politischer Wirkung bringen kann der atheistische Premier die gegen alle Naturgesetze weinende Mutter Gottes aber nicht, weil er Angst vor seinen eigenen irrationalen Anteilen, aber noch viel mehr Verachtung für das im Aberglauben verharrende Volk hat, das er regieren soll. So lahmgelegt lässt er den General die Madonna buchstäblich tiefkühlen.

Serien-Schöpfer Niccolò Ammaniti zeigt Italien als kindisches Gemeinwesen

Mit Pietromarchi hat der Schöpfer der Serie, der Schriftsteller Niccolò Ammaniti, das klassische Porträt des fortschrittlichen italienischen Politikers neu interpretiert, der gegen Volkstribunen wie Berlusconi und Salvini keine Chance hat. Vom Genre her ist „Ein Wunder“ ein Mix aus Mystery, Commedia all’italiana und Politthriller, der so offensichtlich mit den freudschen Zaunpfählen winkt, wie er radikale Gesellschaftskritik übt.

Ammaniti zeigt Italien als kindisches Gemeinwesen, dessen politische und wirtschaftliche Eliten nicht mal für sich selbst Verantwortung übernehmen können, geschweige denn für ihre Kinder, und das nur deswegen nicht in sich zusammenfällt, weil am Ende im Hintergrund jemand so pragmatisch wie undemokratisch einen kühlen Kopf bewahrt. Unrealistisch ist das nicht.

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