Junge Wähler in Frankreich: Auch die „Generation P“ will wählen

Fast ein Viertel der 16- bis 25-Jährigen in Frankreich ist arbeitslos, die Parteien können ihnen nur wenig bieten. Die Studierenden wollen trotzdem wählen.

Die Frage ist, wer sich nicht für wen interessiert: die Parteien oder die Jugend? Bild: dapd

PARIS taz | Am Eingang zum Gelände der Pariser Universität Nanterre, 1968 Hochburg des studentischen Protests, verteilen die jungen Erben jener Generation Flugblätter. Die Mitglieder der Neuen Antikapitalistischen Partei (NPA) geben über ein Megafon bekannt, dass ihr Präsidentschaftskandidat Philippe Poutou am Mittag in einem Hörsaal im Gebäude D eine Wahlveranstaltung abhält.

Das Megafon hat bei der NPA das Parteilogo Hammer und Sichel ersetzt. Überall zwischen der Regionalbahn RER und der Uni hängen Plakate mit dem Gesicht des Kandidaten. Im Saal sitzen neben Aktivisten auch viele Neugierige. Immerhin ist der den meisten unbekannte Poutou der einzige Kandidat, der persönlich zu ihnen kommt.

Poutou, Arbeiter in einem Ford-Werk bei Bordeaux, erscheint wie ein Starpolitiker begleitet von mehreren Fernsehteams und Fotografen, was die rund 300 Anwesenden amüsiert. Der Kandidat selbst scherzt, er sei ein wenig verlegen, vor so vielen Leuten zu reden. Sein Programm kommt wie vom Fließband, er redet viel zu rasch, als sei ihm bewusst, dass seine Zeit knapp bemessen ist. Es lässt sich mit dem Kernsatz resümieren, der hinter ihm auf einem Spruchband steht: „Stürzt den Kapitalismus!“

Poutou gehört bei den Präsidentschaftswahlen am 22. April zu den drei oder vier Randfiguren. Wie seine ebenfalls trotzkistische Konkurrentin Nathalie Arthaud von „Lutte Ouvrière“, stagniert er in den Umfragen bei 0,5 bis 1 Prozent. Er hat längst nicht das Charisma seines Vorgängers, des Briefträgers Olivier Besancenot, der 2002 und 2007 mehr als 4 Prozent erhalten hatte.

Schlechtes Gewissen

Die meisten an der Uni lässt diese Wahlpropaganda kalt. Sounia und ihre drei Kolleginnen, die Fremdsprachen studieren und „ganz bestimmt“ wählen gehen, gestehen mit schlechtem Gewissen, sie hätten sich bisher noch nicht mit den Vorschlägen und den Kandidaten beschäftigt. Generell habe sie das Gefühl, dass die Politiker sich nicht für die Hochschuljugend und ihre Berufsperspektiven interessierten, rechtfertigt sich Sounia.

Aber nicht nur im Saal mit den NPA-Leuten gibt es politisierte junge Leute. Die Jura-Studentin Séverine ist in der größten Studentengewerkschaft Unef aktiv, die allen zehn Kandidierenden ein Manifest mit den zehn Forderungen zugestellt hat. „Ich schaue mir die Debatten am Fernsehen an und lese die Programme der Kandidaten, denn einige meiner Kollegen sind politisch organisiert – links bis Mélenchon und rechts bis Sarkozy –, und ich will in der Diskussion mit ihnen mithalten können.“

Séverine bedauert das ihrer Ansicht nach zu geringe Interesse der Parteien für die Jugend: „Die Linken meinen, die Jungen seien ohnehin eher für sie, und die Rechten denken, es gebe da nicht viel zu gewinnen. Sie haben unrecht, denn die Jungen werden massiv wählen gehen!“

Am meisten noch gefalle ihr der Vorschlag des Sozialisten François Hollande, der mit einem „Solidaritätsvertrag der Generationen“ die Anstellung von Jungen und die Weiterbeschäftigung der Senioren fördern will. Engagieren möchte sie sich da aber nicht: „Die Jungen sind ja bloß als applaudierende und dekorative Statisten vorne bei Veranstaltungen gut genug“, kritisiert sie.

Kluft im Zugang zur Bildung

Der nationale Unef-Vorsitzende Emmanuel Zemmour zieht eine sehr kritische Bilanz der Hochschulpolitik der vergangenen Jahre: Der „Aufzug“ des sozialen Aufstieg für die Generation funktioniere nicht mehr, er müsse dringend repariert werden. Besonders bedenklich ist für ihn die wachsende soziale Kluft beim Zugang zur höheren Bildung: „Der Anteil der Bachelor-Studierenden aus sozial schwächeren Schichten ist von 2006 bis 2011 um fast 10 Prozent gesunken.

Schlimmer noch: Die 18- bis 25-Jährigen haben im Durchschnitt fünfmal mehr Diplome als ihre Eltern, dennoch haben mehr als die Hälfte von ihnen nur prekäre Jobs statt feste Verträge wie 80 Prozent in den übrigen Alterskategorien.“ Mit 2,3 Millionen Studierenden ist der Zugang zur Universität in Frankreich zwar demokratisiert worden, doch an der Schwelle zur Berufstätigkeit herrscht Gedränge in der Warteschlange.

Laut der Wirtschaftszeitung La Tribune hatten im vergangenen Jahr von den nach mehr als vier Studienjahren Diplomierten 2009 nur 64 Prozent eine Arbeit gefunden, und für mehr als die Hälfte von ihnen war das ein befristeter Job. Von den 16- bis 25-Jährigen sind fast 25 Prozent Stellensuchende. Der Mangel an praktischer Erfahrung wird für die Hochschulabgänger zu einem Teufelskreis bei der Suche nach einem festen Anstellungsvertrag. Die meisten, fast zwangsläufig beruflich unerfahrenen jungen Bewerber werden ungeachtet ihrer Abschlüsse mit meist unbezahlten und zeitlich begrenzten Praktika vertröstet.

Diese Erfahrung hat auch die 28-jährige Ophélie Latil gemacht. Sie hat einen Abschluss in Politikwissenschaften und einen Master in Urheberrecht, spricht zudem Englisch, Russisch und Deutsch – Voraussetzungen für eine brillante Karriere. Doch bisher kam es anders: „Man bietet mir jedes Mal ein Praktikum an oder bestenfalls zeitliche befristete Verträge für Projekte. Besonders empörend finde ich auch, dass in Frankreich die Personalchefs auf Bewerbungen von Studienabgängern meist nicht einmal antworten. Und wenn man sich telefonisch erkundigt, wird das als Frechheit angesehen!“

Der Soziologe Louis Chauvel sieht die Zukunft dieser „Generation P“ – P wie prekär und Praktikant – pessimistisch: „Aus den jungen Arbeitslosen werden prekäre Arbeitnehmer und später verarmte Rentner. Es wird keine zweite Chance geben für jene, die keine erste Chance hatten.“

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