Justiz für alle: Jede Menge falsche Zeugen

Wilhelminische Einschüchterungsarchitektur und nachgestellte Prozesse gab es zu sehen beim Tag der offenen Tür im Berliner Kriminalgericht.

Eindrucksvoll bis einschüchternd: Treppenhaus im Berliner Kriminalgericht. Bild: DAPD

Peter Scholz scheint sich heute besonders zu freuen, als er die schwarze Richterrobe überstreift. Vielleicht wirkt er deswegen so beschwingt, weil er weiß, dass keiner der Fälle, die heute anstehen, ihn über diesen Tag hinaus beschäftigen wird. Auch nicht der Zeuge, den der Vizepräsident des Amtsgerichts Tiergarten gleich als Ersten vernimmt. Denn „Bastian Schulz“ existiert nur so lange, bis die nächste Besuchergruppe den Verhandlungssaal betritt.

An diesem Samstagmorgen ist ohnehin wenig wie sonst im Kriminalgericht an der Moabiter Turmstraße: Hauptsächlich Rentner und Kleinkinder bevölkern die langen Gänge, und die meisten der Holzbänke, die in regelmäßigen Abständen die Wände der Flure säumen, glänzen leer und frisch gewachst. Es ist Tag der offenen Tür, und die wenigen Zeugen, die vereinzelt herumsitzen und auf ihre Vernehmung warten, wollen auch nur spielen: so wie Daniel, Hauptschüler der 9. Klasse, alias „Bastian Schulz“, der später zu einer sechsmonatigen Freiheitsstrafe verurteilt wird, weil er ein Handy geklaut und das Opfer dabei mit einem Messer bedroht hat. Im wirklichen Leben ist er Schülerpraktikant im Amtsgericht Tiergarten, das seinen Sitz im selben Gebäudekomplex hat.

Berühmte Prozesse, die einst an der Turmstraße stattfanden – wie der gegen den „Hauptmann von Köpenick“ Wilhelm Voigt im Jahr 1906 oder gegen Stasichef Erich Mielke 1993 –, werden nicht aus den Akten gekramt. Die kann man sich in den pompösen Sälen unter den hohen geschwungen Decken nur vorstellen. Vornehmlich geht es heute um kleinere Delikte wie Raub, auch um häusliche Gewalt.

Auf einmal sehr ernst

Im Saal 105 sitzen bereits rund 30 BesucherInnen und warten geduldig auf den Beginn der Verhandlung. Richter Scholz hat auf einem der vier petrolfarbenen Stühle Platz genommen, die in einer Reihe vor der dunklen Holzvertäfelung stehen. Er wirkt auf einmal sehr ernst und streng in seinem weißen Hemd und der akkurat gebundenen Krawatte, die unter der schwarzen Robe hervorschauen. Auch aus den Augen seines schmalen Gesichts, die von einer dünn umrandeten grauen Brille umrahmt sind, spricht ein Drang nach Ordnung und Rechtsstaatlichkeit. Ganz offensichtlich handelt es sich hier um einen Mann, der seine Rolle auch in der Realität schon oft gespielt hat.

Scholz befragt nun „Bastian Schulz“ zu dem ihm vorgeworfenen Raub: „Und wie lange saßen Sie dann zu Hause vor Ihrer Play Station?“ – „Weiß nicht genau.“ Langweilig? Kein Problem: Schon nach zehn Minuten wird das Frage-und-Antwort-Spiel zwischen Richter und Zeugen jäh unterbrochen. Zeuge Schulz, gegen den ein Haftbefehl vorliegt, springt plötzlich auf und versucht aus dem Saal zu fliehen. Drei PolizistInnen stürzen sich auf den jungen Mann und reißen ihn zu Boden. Heute, wo selbst die Überraschungen geplant sind, haben sie eigentlich einen einfachen Job. Trotzdem sprüht einer der drei dem Zeugen zur Sicherheit mit einer Fake-Flasche Pfefferspray ins Gesicht. Der Jugendliche schreit. „Ich spül dir gleich die Augen aus“, sagt der Polizist, legt ihm aber zuerst die Handschellen an. Dann wird „Bastian Schulz“ vorbei an der Eingangstür zum Gerichtsaal auf die Anklagebank und zu einer dahinterliegenden zweiten Tür geschoben.

Tunnel zum Gefängnis

Was heute wie ein seitlicher Bühneneingang für ein Theaterstück wirkt, ist im Normalfall der Zugang zur „Seufzerbrücke“. So heißen im Gerichtsjargon die kleinen Kammern, die sich unter dem barocken Deckengewölbe im Flur des Kriminalgerichts verstecken. In denen sitzen die Angeklagten und warten, wenn sich das Gericht zur Beratung zurückzieht.

Ein Treppenhaus führt von dort aus zu einem System von Gängen, die das Kriminalgericht und die dahinterliegende Justizvollzugsanstalt Moabit unterirdisch miteinander verbinden. Es sind Überbleibsel aus alten Zeiten – das Kriminalgericht Moabit wurde in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts errichtet. Aber auch vor dem Hintergrund heutiger Rechtsstaatlichkeit werden die engen und verwinkelten Tunnel noch genutzt.

Bei seiner Inbetriebnahme vereinte der wilhelminische Justizpalast technische Modernität mit stilistischer Rückwärtsgewandtheit. Berlins erstes vollständig elektrisiertes Verwaltungsgebäude empfängt seine Besucher mit einer monumentalen, 29 Meter hohen Eingangshalle, auf deren Pfeilergruppen Werte wie Gerechtigkeit, Friedfertigkeit und Wahrheit, aber auch die Lüge von allegorischen Figuren verkörpert werden. Über allem wacht ein in weißen Stein gemeißeltes Auge Gottes. Der Philosoph Michel Foucault hätte sicherlich großen Spaß gehabt, die Architektur des Kriminalgerichts auf die Repräsentation von Macht hin zu untersuchen.

Viel bleibt von der baulichen Einschüchterung an diesem Samstag aber nicht übrig, wenn man die kleinen Kinder betrachtet, die auf die Historie pfeifen und fröhlich durch die Halle toben. Auch die Gesprächskulisse ist so laut, dass man in diesem Stimmenmeer Mühe hat, sein eigenes Wort zu verstehen. Erst gegen Ende, als sich nur noch einzelne BesucherInnen auf den großen Treppenaufgängen verlieren, schimmert das Ehrfurchteinflößende des Raumes wieder durch.

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