Kämpfe im Irak: „Ernste und tödliche“ Bedrohung

Immer weiter rücken dschihadistische Kämpfer im Irak vor. In Mossul wurden türkische Diplomaten als Geiseln genommen. Auch die Stadt Tikrit wurde erobert.

Mossul am 10. Juni. Bild: reuters

BAGDAD dpa/afp/rtr/ap | Mit ihrem Vormarsch Richtung Bagdad, der Einnahme der zentralirakischen Stadt Tikrit und einer Geiselnahme von mindestens 48 Menschen im Konsulat der Türkei in der nordirakischen Stadt Mossul hat die einst Al-Qaida nahestehende Terrorgruppe Isis den Irak in die schwerste innenpolitische Krise seit dem Abzug der US-Truppen Ende 2011 gestürzt.

Allein in der nordirakischen Millionenmetropole Mossul, die von Isis-Kämpfern gestürmt wurde, flohen rund 500.000 Menschen vor den Extremisten. Sie hätten ihre Wohnhäuser aus Angst vor gewalttätigen Übergriffen verlassen, berichtete die Internationale Organisation für Migration (IOM) am Mittwoch in Genf. Viele suchten Schutz in der nördlich gelegenen autonomen Region Kurdistan. Durch Kämpfe habe es unter der Zivilbevölkerung „eine hohe Zahl von Opfern“ gegeben. Das Vorgehen der Islamisten löste international Entsetzen und Besorgnis aus.

Die Isis, eine der radikalsten islamistischen Gruppen im Nahen Osten, kämpft für einen sunnitischen Großstaat zwischen Mittelmeer und Euphrat. Laut Human Rights Watch (HRW) erbeuteten die Kämpfer auf ihrem Feldzug große Waffenarsenale der irakischen Armee. Die Waffen könne Isis nun ins Bürgerkriegsland Syrien einschleusen – und den Konflikt dort noch verschärfen, warnte Peter Bouckaert von HRW.

Auf ihrem Vormarsch nach Bagdad brachten die Kämpfer der Isis bis Mittwoch große Teile der Regionen Ninive, Anbar und Salah ad-Din nordöstlich von Bagdad unter ihre Kontrolle, berichtete der Nachrichtensender Al-Dschasira. Auch in Tikrit, rund 175 Kilometer nördlich von Bagdad, sollen sich am Nachmittag Isis-Kämpfer gegen die Streitkräfte durchgesetzt haben. Nach anderen Angaben nahmen die Islamisten die Stadt kampflos ein. Auch am nördlichen Zugang der Stadt Samarra, nur 130 Kilometer von Bagdad entfernt, kam es zu schweren Gefechten zwischen den Dschihadisten und irakischen Sicherheitskräften. Der irakische Außenminister Hoschjar Sebari sprach von einer „ernsten und tödlichen“ Bedrohung für sein Land.

Türkische Geiseln in Mossul

Nach türkischen Regierungsangaben haben die Dschihadisten das Konsulat der Türkei in der nordirakischen Stadt Mossul gestürmt und dabei 48 Menschen als Geiseln genommen. Unter ihnen seien der türkische Konsul, Angehörige einer Spezialeinheit, Konsulatsangestellte und mehrere Kinder, sagte ein türkischer Regierungsvertreter der Nachrichtenagentur afp am Mittwoch. Die irakische Polizei hatte zuvor von etwa zwei Dutzend Geiseln gesprochen.

Der türkische Außenminister Ahmed Davutoglu brach wegen der Geiselnahme seine USA-Reise ab, wie das türkische Staatsfernsehen TRT berichtete. Er sei auf dem Weg zurück in die Türkei. Die Zahl der entführten türkischen Lkw-Fahrer in Mossul erhöhte sich indessen auf über 30. Die Fahrer waren am Dienstag von Isis-Kämpfern verschleppt worden. Sie waren auf dem Weg von der südtürkischen Stadt Iskenderum in den Nordirak, um Diesel-Kraftstoff zu liefern.

Als strategisch wichtigen Ort eroberten die Extremisten unter anderem Baidschi rund 200 Kilometer nördlich von Bagdad, wie Medien berichteten. Dort wollten sie die Ölraffinerie und das Elektrizitätswerk unter ihre Kontrolle bringen, das auch die Hauptstadt mit Strom versorgt.

Die Aufständischen „sind über Nacht aufmarschiert und haben das Gerichtsgebäude sowie eine Polizeiwache im Stadtzentrum in Brand gesteckt“, berichtete ein Sicherheitsmann in Baidschi dem unabhängigen Nachrichtenportal Al-Sumaria News. Das offizielle irakische Staatsfernsehen meldete dagegen, die Stadt unter Kontrolle zu haben. Gesicherte Angaben gab es zunächst nicht.

Der irakische Ministerpräsident Nuri Al-Maliki nannte Berichte über Eroberungen durch die Isis „Verschwörungen und Falschmeldungen“. Die Armee habe die Region stabilisiert. In einem im Internet kursierenden Propagandamagazin verbreitete die Isis hingegen Bilder von exekutierten irakischen Soldaten. „Al-Malikis tyrannische Stärke ist unserer Frömmigkeit nicht gewachsen“, steht in dem Magazin.

Al-Sadr für Friedensbrigaden

Der einflussreiche Schiitenprediger Muktada Al-Sadr rief seine Anhänger dazu auf, „Friedensbrigaden“ im Land zu bilden, um Schreine, Moscheen und Kirchen in Abstimmung mit der irakischen Regierung gegen die Isis-Kämpfer zu verteidigen. Die irakische Führung selbst erklärte, ihre Militärkräfte mit denen der kurdischen Regionalregierung im Nordirak verbinden zu wollen.

Bereits am Dienstag hatte Isis mit Mossul die zweitgrößte Stadt des Landes unter ihre Kontrolle gebracht. Die Islamisten befreiten rund 2.400 Häftlinge aus Gefängnissen und besetzten Regierungsgebäude und zwei TV-Stationen, wie Al-Dschasira meldete. Die kurdische Regionalregierung könnte ihre Peschmerga-Truppen gegen die Isis-Kämpfer in Mossul einsetzen. Doch ein Peschmerga-Sprecher sagte am Mittwoch, dafür sei eine formelle Anfrage des irakischen Ministerpräsidenten Nuri Al-Maliki nötig, und die gebe es nicht.

Am Donnerstag soll das irakische Parlament über die Forderung von Al-Maliki beraten, den Notstand zu verhängen. Damit hätte der umstrittene schiitische Regierungschef mehr Befugnisse, um in den Konflikt mit den sunnitischen Aufständischen einzugreifen. Viele Sunniten fühlen sich benachteiligt durch die schiitisch dominierte Regierung. Nach dem Abzug der Amerikaner im Dezember 2011 hatte eine Welle der Gewalt zwischen Schiiten und Sunniten den Irak erschüttert. Die Terrorgruppe Isis macht sich diesen Machtkampf zunutze.

Kritik aus den USA

Isis-Chef Abu Bakr al-Bagdadi hat sich vom Al-Qaida-Anführer Aiman Al-Sawahiri losgesagt. Auch mit den Al-Qaida-Kämpfern, die wie Isis in Syrien gegen Präsident Baschar al-Assad kämpfen, steht Bagdadi auf Kriegsfuß. Wiederholt lieferten sich im syrischen Bürgerkrieg Rebellen der Al-Qaida und der Isis Gefechte.

US-Außenamtssprecherin Jen Psaki appellierte an die irakischen Politiker, als Einheit gegen die „regionale Gefahr“ Isis vorzugehen. Es müsse mehr für die Sicherheit des irakischen Volkes getan werden. „Und wenn ich sage, dass die Politiker vor Ort mehr leisten können, dann schließt das natürlich auch Al-Maliki mit ein“, sagte Psaki.

Die Europäische Union und die Arabische Liga riefen am Mittwoch die politischen Gruppen im Land zur Einheit auf. Alle demokratischen Kräfte müssten zusammenarbeiten, um dieser Bedrohung für die Sicherheit des Iraks zu begegnen, hieß es in einer gemeinsamen Erklärung der beiden Staatenverbände. Insbesondere müssten sich die irakische Regierung und die Regierung der autonomen Region Kurdistan zusammentun, um die Sicherheit in Mossul und der umliegenden Provinz Ninive wiederherzustellen.

Die Bundesregierung sieht die Entwicklung im Irak mit „allergrößter Sorge“. Der Sprecher des Auswärtigen Amtes, Martin Schäfer, appellierte an die verschiedenen politischen Lager, ihren Machtkampf zu beenden.

Assad spricht von Annäherung des Westens

Nach Ansicht von Syriens Präsident Baschar al-Assad ändert der Isis-Vormarsch im Irak die Haltung des Westens zum Bürgerkrieg in seinem Land. „Die USA und der Westen haben begonnen, Signale des Wandels zu senden“, sagte Assad laut der libanesischen Zeitung Al-Achbar von Mittwoch. Aktuelle und frühere US-Vertreter „versuchen mit uns in Kontakt zu treten“, sagte Assad. „Aber sie trauen sich nicht, weil mächtige Lobbygruppen Druck auf sie ausüben.“

Begonnen hatte der Konflikt in Syrien vor mehr als drei Jahren als friedlicher Aufstand gegen die Herrschaft Assads. Daraus entwickelte sich ein Bürgerkrieg, in dessen Verlauf bereits mehr als 162.000 Menschen getötet wurden. Fast die Hälfte der Einwohner des Landes floh vor den Kämpfen.

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