„König Lear“ am Wiener Burgtheater: Der Verrückte führt den Blinden

Peter Stein inszeniert „König Lear“ mit Klaus Maria Brandauer am Burgtheater. Heraus kommt teils exzellentes Handwerk – und trotzdem ein Reinfall.

König Lear (Klaus Maria Brandauer, Mitte) zwischen seinen Grafen. Bild: Heinz-Peter Bader/Reuters

Die Kerle tragen das Haupthaar lang und die Bärte wütend. Wenn sie ihre Höhlen verlassen, schützt grobes Fell sie gegen Englands Stürme und Hirsche grillen sie gerne im Ganzen. Bei Frauen und Franzosen ist in Tracht und Sitte schon die Zivilisation eingekehrt.

An dieser Schwelle, die brachiale Stammesbande von politischem Kalkül trennt, steht der alte König Lear (Klaus Maria Brandauer) im Burgtheater Wien und irrt. Er hält Macht für etwas Persönliches und glaubt daher, dass ihm etwas davon bleibt, wenn er sie an zwei seiner Töchter, Goneril und Regan (Corinna Kirchhoff und Dorothee Hartinger), abgibt. Doch die tun nichts anderes, als die Macht in souveränem Eigensinn zu gebrauchen. Wo Loyalität ist, bei Graf Kent (Branko Samarovski) und seiner dritten Tochter Cordelia (Pauline Knof), verwirft Lear sie.

So wird der alte König an der Seite seines geliebten Narren (Michael Maertens) ein paar Stunden später trotz weitgehend intakter Sinnesorgane so blind durch die Heide tapsen wie der geblendete Graf Gloucester (Joachim Bißmeier).

Wenn man Shakespeares „König Lear“ nicht gleich als Trost für Angehörige von Demenzkranken entmythologisiert, was ein Teil der Sekundärliteratur tatsächlich tut, bleibt ein schaurig-schönes Märchen zurück. Es erzählt davon, dass die Chance, überhaupt etwas zu verstehen, sich möglicherweise erst dann auftut, wenn man die Welt nicht mehr versteht.

Dieses Märchen am Wiener Burgtheater mit Brandauer und seinem Regisseur Peter Stein von zwei Protagonisten der Theatergeschichte erzählt zu bekommen, die mit einer erheblichen Lebensleistung auf dem Buckel einem deutlich veränderten Betrieb gegenüber stehen, erschien reizvoll. Zwei neugierige Alte in einer Branche, in der sich im schnöden Alltag frühvergreiste Mittdreißiger tummeln, die ihr Bescheidwissen schon für Aufklärung halten? Ach wie schön wär' das gewesen!

Detailstrenge statt Zeitbezug

Dass dieses Unternehmen in Wien so schief gegangen ist, hat wenig mit dem Alter zu tun, um so mehr mit Borniertheit. Peter Stein stützt sich auf die Übersetzung des Grafen Baudissin, mit der die deutsche Romantik Shakespeare zum nationales Kultur assimiliert hat, und durchforstet sie mit der Detailstrenge eines „Wo ist das Prädikat?“-fordernden Lateinlehrers. Das fördert im Kleinen manche philologische Delikatesse zutage, wie auch hin und wieder einen unerwarteten Durchstich in die Gegenwart. Shakespeares Kunde, dass nun Verrückte Blinde führen, erhält in der Wiener Premiere vor dem Hintergrund der dortigen Regierungsbildung spontanen Szenenapplaus.

Doch auf Zeitbezug zu stoßen, ist bei diesem Projekt eher ein Betriebsunfall. Letztlich dient Steins an sich ja verdienstvolles Bohren dicker Textbretter nicht dem Erkennen des Unbekannten und Unerhörten an Shakespeares Sätzen, das mit wechselndem Sinn an der Gegenwartserfahrung Funken schlagen könnte. Philologisches Bemühen ist hier die Gummimasse, die Stein in die Fugen des Kunstwerks drückt, um seinen unveränderlich-zeitlosen Gehalt gegen die Zumutungen einer aneignungswilligen Gegenwart abzudichten.

Das reaktionäre Postulat von der Abgeschlossenheit des Kunstwerks erstreckt sich an diesem Abend auch auf jene Kunstpraxis, die von je her die veränderlichste war, das Theaterspielen.

Ausschwitzen von Trivialität

Dabei sind, um bei Shakespeare zu bleiben, die Götter doch gerecht. Das trotzige Behaupten des Wahren, Schönen, Guten schwitzt als Destillat unfreiwillig die größtmögliche Trivialität des verhandelten Konflikts aus: Opa will seine Milchsuppe nicht und seine Saufkumpanen tun seiner Gesundheit eh nicht gut, also ab ins Bett. Die Aufführung affirmiert die Würdelosigkeit und die Infantilisierung alter Menschen in der gegenwärtigen Gesellschaft mehr als ihr lieb sein kann.

Klaus Maria Brandauer muss sich irgendwann dazu entschlossen haben, Lear, den alten Sack, der ihm doch ans Herz gelegt war, einfach nur zu lieben. In ritterlicher Treue nimmt er alle Demütigungen seiner Figur auf sich, einschließlich der, ausstaffiert wie ein alter Druide der ernsten Arbeit eines Schauspielers nachzugehen. Der dramaturgische Ansatz ist nicht verhandelbar, doch kommt Brandauer damit weiter als man es den müden Füßen Lears je zugetraut hätte.

Verteidigung des Handwerks

Im Detail ist das alles exzellentes Handwerk, bei Lear, bei den Töchtern, den Grafen, den Schurken und der ganzen Meute. Schließlich ist das Burgtheater zumindest zu solchen Gelegenheiten in der Lage, die besten SchauspielerInnen zu versammeln, die für Geld zu engagieren sind. Doch sie alle rennen mit identifikatorischer Blindheit in die Irre.

Die Verteidigung des Handwerks in der Kunst um des Handwerks willen landet im Kunstgewerbe. Dieses Theater weigert sich, die Kritik der Repräsentation, die sie einst aufwarf, an sich selbst zuzulassen. Nicht die „Alte Schule“ ist an diesem Abend gescheitert. Es war ihre Weigerung, sich dem Interesse der Gegenwart an ihr zu stellen.

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