Kohlenkraftwerk-Baustelle: Zukunftsenergie Kohle

In Deutschland sollen 40 neue, leistungsstärkere Kohlenkraftwerke entstehen. Sie stoßen mehr CO2 aus - dagegen regt sich Widerstand. Eine der Baustellen ist in Neurath.

Bald ausgedient? Das alte Kohlekraftwerk in Neurath Bild: dpa

NEURATH taz Stolz blickt Andreas Kablau von seinem Turm aus schwindelerregender Höhe. Auf einer Fläche 53 Hektar, also gut 64 Fußballfeldern, versammelt sich eine riesige Masse an Stahl, Beton und Erde. Meterdicke Stahlträger erheben sich vom braunen Erdboden, gewaltige Ausleger von Baukränen hängen quer in der Luft - und wirken dennoch klein im Vergleich zu dem grauen Kühlturm. Dieser sieht aus wie ein riesiger Schlund aus Beton, der mit seinen 170 Metern Höhe den Kölner Dom deutlich überragen würde. Hier, auf der größten Baustelle Europas im rheinischen Neurath bei Neuss, entsteht ein neues Braunkohlekraftwerk.

Strom wird nur dann umweltfreundlich erzeugt, wenn möglichst viel der eingesetzten Energie genutzt wird. Mit steigender Ausbeute steigt der Wirkungsgrad eines Kraftwerks.

Bei Kohlekraftwerken aber bedeutet ein höherer Wirkungsgrad nicht "umweltschonend", sondern "weniger schädlich". Denn dieser Brennstoff belastet das Klima nach wie vor am meisten. Die Energieausbeute der Braunkohle ist besonders niedrig, weil sie zu 50 bis 60 Prozent Wasser enthält, das für die Verbrennung nicht genutzt werden kann. Es muss also relativ viel von dem Energieträger verbrannt werden, um Strom zu erzeugen. Damit steigen auch die schädlichen Kohlendioxid-Emissionen.

Entstehen in modernen Braunkohle-Anlagen rund 950 Gramm Kohlendioxid pro Kilowattstunde, sind es beim Einsatz von Steinkohle 740 Gramm und bei Gas 350 Gramm. Auch Windräder können nicht die komplette Energie übertragen und kommen auf einen Wirkungsgrad von rund 40 Prozent. Dafür kommen sie beim Betrieb komplett ohne Emissionen aus.

Ab dem Jahr 2010 soll die Anlage des Essener Stromkonzerns RWE 2.100 Megawatt Strom erzeugen. Rund 9 Millionen Menschen können damit versorgt werden. Das bedeutet aber auch: Die beiden neuen Kraftwerksblöcke werden jährlich 15 Millionen Tonnen Kohlendioxid ausstoßen.

Darauf angesprochen, reagiert der schmächtige Sicherheitsingenieur Kablau empfindlich. Er vergisst den imposanten Ausblick und wendet sich mit Worten an den Besucher, die ebenfalls beeindrucken sollen: "Es gibt weltweit kein perfekteres Kraftwerk als unseres." Man verwende beste Materialien und erreiche die höchste Effizienz.

Ein Braunkohlekraftwerk gilt heute als effizient, wenn es einen Wirkungsgrad von 43 Prozent erreicht. Vor 15 Jahren waren es noch 30 Prozent. Das bedeutet, heute wird durch verbesserte Technologie und Verfahren mehr Energie bei der Verbrennung produziert. Aus weniger Kohle und entsteht also bei einem geringeren Ausstoß von CO2 mehr Strom. "So verzahnt sich Wirtschaftlichkeit mit Umweltschutz", sagt RWE-Sprecher André Bauguitte.

Allerdings werden derzeit nicht nur in Neurath neue Kraftwerke gebaut. Die deutschen Energieerzeuger investieren große Summen in neue Anlagen, insbesondere in die als klimaschädlich geltenden Kohleanlagen. Ein internes Papier der Bundesnetzagentur, der Regulierungsbehörde, das Ende März bekannt wurde, belegt den Bauboom der Branche. Falls alle der in dem Papier aufgeführten Vorhaben realisiert werden, werden in den nächsten Jahrzehnten rund 40 Kohlekraftwerke erweitert oder neu gebaut. Dabei stehen schon jetzt in Deutschland mehr extrem klimaschädliche Kraftwerke als irgendwo sonst in der EU. Bei 6 der 10 Anlagen, die die schlechtesten Werte pro Kilowattstunde aufweisen, handelt es sich um deutsche Braunkohlekraftwerke, wie eine Studie des World Wilde Fund For Nature zeigt.

Die Stilllegungslüge

Die Stromerzeuger sprechen von einem "Erneuerungsprogramm". 40.000 Megawatt Leistung, rund ein Drittel der heute in Deutschland installierten Kapazität, müssen dem Verband der Elektrizitätswirtschaft zufolge altersbedingt bis zum Jahr 2020 ersetzt werden. Die meisten Kraftwerke, die heute Strom in die Leitungen speisen, arbeiten bereits seit 40 Jahren. Ob sie aber alle bald vom Netz gehen, ist fraglich. Denn sie haben ihr so genanntes "goldenes Ende" erreicht. Zwar arbeiten sie wenig effizient, sind aber längst abgeschrieben und produzieren dadurch Gewinne für Eon, Vattenfall, RWE oder EnBW.

Der Bund für Umwelt und Naturschutz (BUND) spricht sogar von einer "Stilllegungslüge". In einer Ende Juni veröffentlichten Studie hat der BUND die neuen gegen die alten Kohlekraftwerke aufgerechnet. Das Ergebnis: Neuen Anlagen mit über 27.000 Megawatt Leistung stehen nur knapp 7.000 Megawatt gegenüber, die abgeschaltet werden. Die jährlichen CO2-Emissionen würden durch diese Entwicklung um etwa 120 Millionen Tonnen steigen.

Nachfragen bei den einzelnen Betreibern bestätigen den Trend. Für ein neues Steinkohlekraftwerk von Vattenfall in Hamburg (1.640 MW) sollen dort nur 260 MW stillgelegt werden. In Neurath gehen für die neuen Anlagen mit 2.100 Megawatt die alten vom Netz, die 1.650 MW produziert haben. Und für das neue Braunkohlekraftwerk von Vattenfall in Boxberg fällt gar nichts weg. Der Plan von Bundesumweltminister Sigmar Gabriel, bis zum Jahr 2020 durch den Bau effizienterer Kraftwerke 30 Millionen Tonnen Kohlendioxid einzusparen, scheint damit kaum realisierbar.

Dass sich zusätzliche Kapazitäten für die Stromunternehmen auszahlen, zeigen die Exportüberschüsse im europäischen Verbundnetz. Im vorigen Jahr haben deutsche Kraftwerke 20 Milliarden Kilowattstunden für das Ausland produziert.

Doch es gibt auch Widerstand, etwa im rheinischen Krefeld. Dort protestiert der 53-jährige Ulrich Grubert mit einem Hungerstreik gegen ein Steinkohlekraftwerk, welches das Unternehmen Trianel im Stadtteil Uerdingen bauen will. Mit der Protestaktion will er die Aachener Betreiberfirma dazu bringen, auf Kohle zu verzichten und stattdessen ein Gaskraftwerk zu bauen, das pro erzeugte Kilowattstunde nicht einmal halb so viel CO2 ausstoßen würde würde wie die Steinkohle.

Hungern für das Klima

Seit Ende Mai hatten sich Aktivisten des Niederrheinischen Umweltschutzvereins wöchentlich mit dem Hungerstreik abgewechselt; seit dem 13. August macht Grubert allein weiter. Er will so lange hungern, "bis das Thema Kohlekraftwerk beendet ist", sagt der Physik- und Erdkundelehrer entschlossen am 17. Tag seines Hungerstreiks. 11,4 Kilogramm hat er bis dahin abgenommen. Unterstützung bekommen er und seine Mitstreiter vom Krefelder Stadtrat, der sich, als erste Kommunalvertretung überhaupt, im März gegen den Bau des Steinkohlekraftwerks aussprach. Seither versucht Trianel, die Ratsfraktionen umzustimmen. Auch in Düsseldorf und in Berlin werden geplante Kohlekraftwerke hinausgezögert.

Umweltverbände sprechen inzwischen von einer "neuen Bürgerbewegung für den Klimaschutz". Laut einer Forsa-Umfrage von Mitte August finden zwei Drittel der Befragten, dass neue Kohlekraftwerke verhindert werden müssten. "Das Bewusstsein für den Klimawandel ist gestiegen", sagt Gabriela von Goerne, Kraftwerksexpertin bei Greenpeace. In Bremen konnten die Kritiker bereits einen ersten Erfolg verbuchen: Anfang August entschied die Firma SWB, ein dort geplantes Steinkohlekraftwerk doch nicht zu bauen. Offizielle Begründung: zu hohe Kosten, weil sich die Anlagenbauer derzeit vor Aufträgen kaum retten könnten.

Auch der wirtschaftliche Druck, auf Kohle zu verzichten, nimmt zu. Der Emissionshandel, der bislang keine Wirkung auf die Investitionen von Vattenfall, RWE und Co. hatte, scheint allmählich Probleme zu bereiten. Eigentlich dafür vorgesehen, den Ausstoß von Kohlendioxid zu verteuern, wurden die Emissionszertifikate in der ersten Handelsperiode bis Ende dieses Jahres noch reichlich und umsonst ausgeteilt. Doch in der zweiten Periode ab kommendem Jahr werden ihnen 57 Millionen Tonnen weniger Emissionen als zuvor gestattet sein; 10 Prozent der Zertifikate sollen versteigert werden. Alte Anlagen schneiden bei der Verteilung besonders schlecht ab.

Erhält ein Unternehmen weniger Emissionszertifikate als benötigt, muss es welche hinzukaufen. Und das müssen die großen Energieunternehmen für die kommende Handelsperiode offenbar in großem Maße. Dem RWE-Sprecher Bauguitte zufolge erwartet der Konzern eine Unterausstattung von bis zu 50 Prozent. RWE müsste in der zweiten Handelsperiode jährlich Zertifikate für 60 bis 70 Millionen Tonnen Kohlendioxid hinzukaufen. Bliebe der Preis der Papiere auf dem heutigen Stand, würde dies Kosten von bis zu 1,4 Milliarden Euro verursachen. Auch Eon wird den Angaben eines Firmensprechers zufolge ein Drittel seiner Zertifikate kaufen müssen. Trotzdem wollen die Energiekonzerne nicht auf die Kohle verzichten. Denn langfristig rentieren sich Projekte wie Neurath trotz des Emissionshandels.

Während der Rohstoff Braunkohle noch reichlich in Deutschland vorhanden ist und die Steinkohle noch günstig importiert werden kann, wird das Gas auf den Weltmärkten in den kommenden Jahren knapper werden. Versorgungssicherheit biete daher nur die Kohle, argumentieren die großen Stromkonzerne. Außerdem sei das Wachstum der erneuerbaren Energien unter anderem durch fehlende geeignete Bauflächen begrenzt, heißt es bei RWE. Das sehen jedoch nicht alle so. Nach einer Studie in Auftrag des Umweltministeriums von Februar dieses Jahres kann der Anteil der regenerativen Energiequellen an der Stromerzeugung bis zum Jahr 2050 auf 77 Prozent steigen. Mit den großen Stromkonzernen ist bei dieser Entwicklung aber nicht zu rechnen. Sie wollen auch künftig mit fossilen Energieträgern wirtschaften, und dies möglichst effizient, um die Kosten für die Emissionszertifikate auszugleichen.

Dabei kann man auch in Neurath sehen, wie es anders gehen könnte: Vom Turm sind Windräder in der Ferne zu erkennen.

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